Berichte zur aktuellen Lage in der Ukraine

Cristina informiert in einen Mail am 25.2.2022 über die Invasion der russischen Truppen in der Ukraine. Über die Lage auf dem Hof in Potutory und die Auswirkungen des Krieges schreibt Cristina regelmässig einen Bericht über Situation in der Ukraine. Diese werden hier unten in umgedrehter Reihenfolge aufgezeigt.

Liebe Freunde,

danke Euch allen für Euer an uns und an mich denken. Gestern waren wir alle irgendwie in einer Schockstarre. So etwas hat nun einfach niemand erwartet.

Bei uns ist es ruhig, aber sie sagen, dass die kleine Stadt Ternopil (60 km Entfernung) auch irgendwie im Visier ist, weil es da einen Armeestandpunkt gibt. Genaues weiss ich nicht, aber einige unserer Leute haben im Keller übernachtet. Heute sind alle zur Arbeit gekommen. Es ist anscheinend nichts passiert.

Wie es weiter geht, weiss man nicht. Man hofft auch, dass es doch nur ein Blitzkrieg ist. Die Hoffnung ist auch eine Kraft (siehe das angehängte Gedicht von Schiller, das mir Daniel einmal geschenkt hat). Das zweite Gedicht können wir auch brauchen

Ich bleibe vorläufig noch hier, mindestens solange es hilft, wenn ich hier bin. Gestern hab ich den Tank meines Autos vollgetankt. Das reicht bis an die Grenze. Die Zusammenarbeit mit Ivan ist dergestalt, dass ich nicht weiss, ob meine Anwesenheit noch sehr hilfreich ist. Wir sind natürlich auch alle sehr unter Druck.

Heute haben wir doch noch einen Dreiphasengenerator gefunden, was uns ermöglichen wird, weiterzuarbeiten, weiterhin Wasser zu haben und weiterhin kochen und heizen können, auch wenn der Strom ausfällt.

Wenn ich es schaffe, versuche ich von nun an, unsere Erlebnisse aufzuzeichnen und Euch zukommen zu lassen. Das würde mir gut tun, weil ich dann ein bisschen nachdenken muss.

Im Sinne der beiden Gedichte grüsse ich Euch ganz herzlich, Cristina

Hier wieder einmal einiges aus unserem Alltag, damit Ihr uns nicht etwa noch vergesst. Im allgemeinen beginnt ja die Ukraine wieder aus dem Fokus zu verschwinden.

Bald haben unsere Khlopzis alles Heu und alle Silage eingebracht, was darauf herausläuft, dass jetzt schon 590 Heulage- und 240 Heuballen in den Lagern aufgestapelt sind. Aber es läuft auch darauf hinaus, dass sie jeden Tag bis zehn Uhr, manchmal fast bis zwölf Uhr nachts gearbeitet und Ballen gewickelt. Bogdan hat gemeint, er wünsche sich sehnlichst, dass es eine Woche lang regne. Das zeigt, dass wir erstens eine lange Schönwetterperiode hatten, eine zu lange, darum kamen sie so gut voran, und zweitens zeigt es, was wir doch für loyale Mitarbeiter haben, die einfach da sind, wenn es nötig ist. Natürlich sind sie auch am höheren Lohn interessiert, aber das allein ist es nicht. Ivan ist zwar wie immer nicht zufrieden und sagt, wir sind wie immer zu spät dran. Und ich habe wie fast immer eine andere Meinung, und meine, wir hätten erstens gute Mitarbeiter und hätten zweitens doch recht schöne Silage und grünes Heu nach Hause gebracht.
Bis man halt die Frühlingsaussaat gemacht und parallel laufend kaputt gegangene Maschinen geflickt und die Futterbaugeräte instandgestellt hat, ist es einfach später als Anfang Juni, wo man das Heu eigentlich zu Hause haben sollte. Und jetzt haben wir das gleiche in grün, weil in einer Woche eigentlich schon der Mähdrescher bereit sein sollte. Und im Herbst werden wir das gleiche in hellblau haben bei den Herbstarbeiten. Wer uns jetzt gerne den guten Rat geben mächte, man müsse die Maschinen eigentlich im Winter bereit machen, der hat eigentlich 100% recht, und ich lade ihn sehr gerne für ein Jahr auf unsern Betrieb ein. Im übrigen ist unser grosser Traktor, für den eigentlich Geld vorhanden wäre, immer noch nicht gekauft, weil es denn eben doch nicht so einfach ist, für 30- 40'000 EURO etwas Reelles zu kaufen. (lLieber Spender, sei uns nicht böse, der Traktor kommt!! Es dauert halt einfach alles so lange bei uns). Dafür haben unsere Khlopzis, unter der Regie von Ivan, den seit Jahren wartenden Doppelschwader endlich zum funktionieren gebracht, sowie den «Fortschritt», ein sechs Meter breites Mähwerk, das selber fährt. Dieses geniale BMW-Modell haben die Deutschen im zweiten Weltkrieg in die Ukraine gebracht. In Deutschland braucht es unterdessen wahrscheinlich niemand mehr. Der «Fortschritt» ist so konstruiert, dass man Buchweizen oder Hirse auf Schwad mähen kann, aber unsere Khlopzis haben ihn so umgebaut, dass er auch Gras mäht. Bis jetzt funktioniert er bestens und erspart uns Zeit und einen Traktor. Von wegen, man hätte auch Grund zufrieden zu sein, mindestens teilweise.

Soviel Männer wie dieses Jahr haben bei uns noch nie mitgearbeitet. Die Partner von vier unserer Kräuterfrauen, die sonst in Polen der Arbeit nachgehen, weil man dort bis viermal soviel verdient, können jetzt die Ukraine nicht verlassen. Und ihre Frauen haben eingefädelt, dass sie nun bei uns arbeiten. Sie haben, , als unsere Freunde und Mitarbeiter aus Irpin wieder dahin zurückgegangen sind, die neugepachteten Felder (siehe Anbauschlacht) weiter vom Baumbewuchs befreit Letzte Woche haben sie das Dach über unserer Schachtelhalmtrocknerei instandgestellt. Diese Trocknerei befindet sich auf dem Boden über dem Heulagerstall und hat das Ausmass von 100 x 30 m. Sie haben die Fensteröffnungen gegen Vogeleinflug vergittert, morsche Balken ausgewechselt, Löcher geflickt und Eternitplatten auf dem Dach ausgewechselt. Jetzt kann dieses Gestühl und sein Dach weitere, sagen wir, 10 Jahre unbehelligt seinen Zweck erfüllen, was unter anderem ist, den Schachtelhalm trocken zu halten. Und es hat sich herausgestellt, dass diese Männer ebenso nett, tüchtig, organisiert und selbständig sind, wie ihre Frauen. Ich mach mir natürlich schon wieder Hoffnungen.

Morgen fangen wir mit dem Sammeln der zehn Tonnen Schachtelhalm auf unsern Feldern an, was auch ein rechtes Projekt ist. Zum Glück gibt es da eine liebenswürdige und geübte Sekundarlehrerin aus dem Nachbardorf, die die Sammler auf dem Feld anleitet und kontrolliert, so dass alles sauber und sorgfältig gemacht wird. Die Sammler bewegen sich nämlich zwischen den Saatreihen des Getreides, und das wollen wir dann auch noch dreschen. Dennoch gibt es Frauen, die bis zu 60 kg Schachtelhalm pro Tag sammeln. Am Abend nehmen unsere zwei Oksanas das Sammelgut entgegen und legen es auf dem besagten Boden unter dem besagten Dach aus. Der Schachtelhalm muss dann täglich einmal gewendet werden. Ihn schön zu trocknen ist nämlich gar nicht so einfach, wie man meinen könnte. Wenn er splitterdürr ist, lässt ihn unser Nachtwächter Mischa, mit Hilfe von Oksana Mykolajevna, durch eine Futterschneidemaschine, er wird in 20 kg Säcke abgefüllt und fertig ist unser Exportprodukt.

Gestern hab ich unsere junge Kräuterfrau Ljuba auf dem Markt getroffen, die eigentlich angekündigt hat, dass sie nächste Woche, nach ihrem dreimonatigen fluchtbedingten Aufenthalt in Polen, wieder arbeiten komme. Ihr Mann ist als einer der wenigen Männer im Dorf ins Militär eingezogen worden. Sie hat Angst um ihn, und er hat Angst um sie und die Kinder und will unbedingt, dass sie wieder nach Polen geht.

Und sie ist traurig darüber, dass ihr Mann so ehrlich war und der Einberufung gefolgt ist. Sie meint, es spazierten in Potutory so viele junge Männer herum, dass sie nicht verstehen könne, warum diese nicht eingezogen worden seien

Und wir machen uns auch wieder Sorgen, dass unsere Männer in die Armee eingezogen werden. Ivan meint, man müsse eine Spende an die Armee machen, dann hätte man mehr Chancen, dass sie einen «vergessen».

Heute, kurz vor Ende der Futterernte, ist noch die Kupplung unseres Beloruss, der mit dem Frontlader, kaputtgegangen. Man kann hier alles, wirklich alles reparieren, und auch diese Kupplung wird repariert werden, aber es kostet dennoch Zeit und Nerven und Geld. Dafür funktioniert die neue Spritze fürs Kieselpräparat, Marke Eigenbau, wunderbar und zersprüht und vernebelt fast 10 Meter breit, ein weiterer Husarenstreich unserer Khlopzis inklusiv Ivan. Wir haben sie gestern abend mit Wasser getestet, nicht die Khlopzis, aber die Spritze, denn wir wollten heute Morgen mit dem Dynamisieren und Spritzen dieses Präparates anfangen. Wir haben uns aber dagegen entschieden, weil es viel zu trocken ist, und die Kieselspritzung die Pflanzen noch mehr stressen würde. Hoffentlich kommt heute der von Mensch und Erde heiss ersehnte Regen.

Für ein weiteres Drama hat unser Nachbar mit seinem Kartoffelacker gesorgt. Der liegt direkt neben dem Kräutergarten, und gegen den Kartoffelkäfer spritzt er wie alle andern hier wie ein Weltmeister, aber nicht mit 501. Um zu verhindern, dass der Wind Insektizide zu unseren Kräutern transportiert, hab ich dem Nachbarn und seiner netten, kleinen Frau Maria, die früher in Italien gearbeitet hat, und die mir einfach Du sagt, was mich ausserordentlich anheimelt, denn alle andern bringen das Du nicht über die Lippen, weil ich schon älter und erst noch eine Respektperson bin; ich habe den zweien also vorgeschlagen, dass wir ihre Kartoffeln mit einem Bio- Präparat spritzen, d.h.mit Bazillus Turengiensis. Das macht zwar die Kartoffelkäfer und –larven krank, schadet aber den Nützlingen nicht. Unsere Agronomin Inga hat dieses Projekt übernommen, was aber nicht heisst, dass sie selber gespritzt hätte. Am Schluss waren vier Menschen in dieses Projekt involviert: Inga, die gesagt hat, wieviel Mittel man auflösen muss, Stepan, der Mann einer Kräuterfrau, der in der Hitze gespritzt hat, ich, die immer wieder nachgefragt hat, ob alles gut sei, und schlussendlich die Nachbarin Maria, die völlig aufgelöst mit einem Kübelchen voller Kartoffelkäferlarven angerannt kam. Jeden Tag habe sie gesammelt, der Käfer fresse ihre Kartoffeln, jedes Jahr hätten sie so schöne Kartoffeln gehabt und dieses Jahr fielen alle Blüten ab, und dann gebe es keine Früchtlein und darum auch keine Kartoffeln, und soo grosse Kartoffeln hätten sie gehabt, und j e d e n Tag hätte sie Käfer gesammelt und so fort und dann wieder von vorne. Schlussendlich ist die Wissenschafterin Inga zur Tat geschritten und hat Maria erklärt, wie das Mittel wirkt, und dass die Larven krank sind und darum gar nichts fressen, und dass im Boden zu wenig Bor sei, und dass darum die Blüten abfielen, denn Bor habe die Funktion xy im Pflanzenstoffwechsel. Maria war irgendwie geschmeichelt, dass eine so gescheite Frau so mit ihr redet, befand sich während dieser Vorlesung aber dennoch auf einem andern Stern und hat dann ihre Klage wieder von vorne angefangen. Schlussendlich hat Stepan die Spritze hervorgeholt und ist auf seine Art zur Tat geschritten. In dieser Art fanden zwei oder drei Akte statt. Inga hat jeweils durch das Erscheinen von Maria mit ihrem Kübelchen voller Kartoffellarven gemerkt, dass Handlungsbedarf besteht, ich habe Stepan aufgeboten, und er ist zur Tat geschritten. Nach dem dritten Akt hab ich mir gedacht, dass ich vielleicht doch auch zur Tat schreiten müsse und habe mir die Kartoffeln angeschaut. Und siehe, was für eine wunderschöne, gesunde, dunkelgrüne Kartoffelkrautpracht. Einige Larven da und dort, aber sonst einfach Kartoffelkraut wie im Syngenta-Katalog. Dann bin ich zu Maria geschritten und hab ihr zu ihren wunderschönen Kartoffeln gratuliert und wollte ihr Geld geben dafür, dass sie mitgeholfen hat mit Sammeln, was sie aber kategorisch abgelehnt hat. Plötzlich hat sie irgendwie auch gefunden, dass sie schöne Kartoffeln habe, hat sich aber doch ihre Sicht der Dinge insofern vorbehalten, dass sie darauf bestanden hat, wir hätten eine höhere Dosis spritzen müssen. Es hat schon nach Happyend ausgesehen. Aber gestern kam Maria nochmals mit ihrem Kübelchen, und Stepan musste zum vierten mal spritzen. Die Kräuterfrauen sagen, sie hätten zu Hause dreimal mit Chemie gespritzt, und es habe noch immer Käfer. Das Happyend steht anscheinend noch aus.

Auf diese Art könnte ich noch stundenlang erzählen, lasse es aber für heute auf sich beruhen.

Nur noch eine kurze Information. Wir sind an die «Biofach» in Nürnberg (internationale Messe für den Bio-Markt) eingeladen und werden da im Rahmen eines Ukrainestandes auftreten. Für eine spezielle Ukraineveranstaltung innerhalb der Biofach hat der Kräuterbetrieb zusätzlich den Auftrag bekommen, einen «Friedenstee» in einer netten kleinen Verpackung zu kreieren. Er wird nun dort unter dem Namen «Wide Sky of Ukraine»als kleines Geschenk an die Teilnehmer verteilt werden. So werden wir also an diesen zwei Orten vom 26.-29. August auftreten und Reklame sowohl für die Ukraine, wie für uns machen und hoffen darauf, dass der Schuss nicht nach hinten geht.

Nur noch etwas wahnsinnig wichtiges: gestern abend hat es herrlich und ausgiebig geregnet! 23 mm!!!

Einige vermischte Meldungen:

Wir haben mit der Futterernte begonnen und neben bereits 100 Siloballen konnten wir auch 40 Ballen schönes, noch grünes Heu einbringen, was hierzulande eine Seltenheit ist. Die zweiten 40 Ballen der gleichen Wiese schafften wir nicht mehr vor dem Regen. Die konnten wir erst heute, nachdem das Heu ausgiebig nass und wieder trocken geworden ist, nach Hause bringen, und jetzt sieht es natürlich schon eher wie Stroh aus. Aber hier tröstet man sich mit der Regel, dass das Heu erst richtig sei, wenn es einmal nass geworden sei. Darum hat unser Bogdan bei der ersten Partie, die er begutachten sollte, gemeint, es sei zu früh zum Ballen machen, das Heu sei noch grün.

Letzte Woche hat mir Evgen Boyko abends um zehn, nachdem er und zwei andere Traktoristen 70 Siloballen in kürzester Zeit gewickelt haben (dazu ist zu sagen, dass unsere Traktoristen in der Saison oft bis in die Nacht arbeiten), voller Stolz auseinandergelegt, wie er herausgefunden habe, wie man den Arbeitsprozess optimieren könne, und dass sie darum jetzt dreimal so schnell und erst noch optimal wickelten. Ich hab ihn gelobt und mich über unsern aktiven und denkenden Mitarbeiter gefreut. Am nächsten Tag hat mir Anja die Melkerin voller Stolz auseinandergelegt, wie sie herausgefunden habe, wie man die Pflege der Kälber optimieren und verbessern könne. Wieder hab ich gelobt und mich über unsere aktive Mitarbeiterin gefreut. Voller Stolz hab ich dann Ivan von unsern aktiven Mitarbeitern erzählt. «Sie sollen zuerst mal a l l e ihre Arbeit gut machen», war zusammengefasst sein Kommentar.
Ein paar Tage später musste ich Evgen gegenüber etwas klarstellen, in Sachen privater Nutzung des Milchopels. Als später dann auch noch Ivan etwas klarstellte, ist er vor Arbeitschluss davon gelaufen, zu Fuss- und nun, seit drei Tagen ward er nicht mehr gesehn. Gleichentags hat unser Stallteam, nach dreimaligem Mahnen und nach Reklamationen vom Milchlabor, endlich den Mastitistest gemacht. Die Regel, dass der Test jeden Sonntag gemacht wird, ist seit Jahren bekannt und wurde meistens auch befolgt, aber diesmal ist der letzte dokumentierte Test einige Wochen alt. Dazu ist zu sagen, dass unsere Kühe seit Monaten gesund waren, und es überhaupt keine Mastitis gab. An diesem schwarzen Dienstag also wurde der Test endlich gemacht – und hat offenbart, dass wir eine richtige Mastitisepidemie haben.... Wer ist jetzt in diesen zwei Fällen verantwortlich für die Katastrophe? Dazu kommt, dass das traditionell gute Verhältnis zwischen Anja und mir anfängt zu wackeln. Zu viel gibt es zu beanstanden bezüglich Ordnung, Sauberkeit und Melkdisziplin. Mal schauen, wie ich das wieder einrenke – und vor allem wie wir die Disziplin wieder einrenken. Vielleicht mit Hilfe der Kamille.
(Unterdessen ist die Situation schon wieder einigermassen unter Kontrolle.)

Die Anbauschlacht von der ich erzählt habe, hat unter anderem zur Folge, dass viele der brachliegenden Flächen, wo wir Schlüsselblüemli, Hagebutten, Johanniskraut, Huflattich, Tausendgüldenkraut und anderes gesammelt haben, in Getreidefelder umgewandelt worden sind, die allein von Mai bis jetzt «150 mal gespritzt worden sind» (Aussage der Gemeindepräsidentin von Possukhiv). Die Respektierung der «Roten Liste» und nachhaltiges Sammeln werden plötzlich nicht mehr eingefordert. Jetzt können wir Organischen selber schauen, wo wir noch Wildpflanzen, wie Gott sie geschaffen hat, finden, jedenfalls nicht nicht in der Nähe dieser Felder. Und ich muss mich sputen, damit ich bis am Dienstag, wenn unser Bio-Kontrolleur kommt, die Liste der Sammlungsterritorien aktualisiert, bzw.verkleinert haben werde. Die Bio-Bauern werden ja auf Herz und Niere geprüft und durchleuchtet – wie hochverdächtige Subjekte. Und die bürokratischen Mechanismen, die uns auf die Schliche kommen sollen, potenzieren sich von Jahr zu Jahr.

Benzin ist zu einer raren Ware geworden. Wenn es sie einmal gibt, muss man stundenlang Schlange stehen, um zwanzig Liter zu bekommen- falls es dann noch hat, wenn man an die Reihe kommt. Andere Tankstellen verkaufen überhaupt nur, wenn man sogenannte Talonchiki hat. Die kann man, wenn man eine Firma ist, beim Produzenten engros kaufen. Unsere Geldwechsel-Gangster haben nun also eine neue

Einnahmequelle gefunden. Sie haben eine Firma gegründet, kaufen beim Produzenten eine grosse Menge Talonchiki, und verkaufen sie dann auf dem Markt zu übersetzten Preisen.

Dagegen hat die Kamille ganz anderes im Sinn, als Geld zu machen oder klarzustellen oder schludrig zu sein oder solche Sachen. Aus einem winzigen Samen schickt sie zwei winzige Keimblättchen ans Licht, aber dann gibt es schon bald kein Halten mehr. Sofort verzweigt sie sich voller Überschwang (übrigens auch in ihrem Wurzelsystem) und hört nicht auf damit bis zum letzten Seitenseitenseitenstengelchen, und sogar dem Blütenstengelchen kommt es noch in den Sinn, sich zu verzweigen, um noch ein Blütenköpfchen mehr zu produzieren. Daraus ergibt sich eine blütensprühende, luftige, lichtgrüne, über dem Boden schwebende Kugel, die vom tausendfältigen Jauchzen dieser Blütchen vibriert. Und sogar jetzt, wenn man das Gefühl hat, jetzt hat sie sich vollkommen verausgabt mit ihrem Blühen, die Kamille, steigen aus irgendwelchen geheimen Blattächselchen nochmals gefühlte Tausend Blütenknöspchen hinauf ans Sonnenlicht. Nicht zu vergessen, dass jede kleine strahlendgelbe Korbblüte sich ja nochmals in sich verzweigt in eine Versammlung von hundert (vielleicht nicht ganz hundert) winzigen Röhrenblütchen,und jedes davon ist voll ausgestattet mit Stempel und Staubgefässen und Fruchtknötchen. Wenn das keine Wucht ist. Im Übrigen produziert eine Kamillenpflanze 45'000 Samen. Mit meinen gefühlten Tausenden liege ich also gar nicht so daneben. Und da steht sie also die Kamille, diese alles besiegende Armee von Lichtsoldaten - wenn man sich dann nur von ihrer Macht besiegen lassen könnte. Die ganze Blütenarmee streckt sich so etwas von stramm und hingebungsvoll und hingerissen der Sonne entgegen, jede einzelne Blüte ihr Antlitz hochkonzentriert der Sonne zuwendend, alle zusammen ausgerichtet wie eine Armee, dass man einfach fromm werden könnte. Sofern das Dunkle, schwärend Entzündliche in einem selbst nicht auch noch ein Wörtchen mitreden würde. Aber die Kamille macht es einem vor, wie es gehen könnte, ein Soldat des Lichtes zu sein - dass es nämlich ganz einfach ist. In diesem Sinn hilft sie uns ja auch als Heilpflanze. Nur sind wir Gott sei Dank Menschen, die dann auch noch das ihre beizutragen haben.

Die Kamille ist eine weitere Präparatepflanze, und auch zu diesem Behuf sammeln wir sie zurzeit. Durch ihren homöopathischen Schwefelgehalt könne sie das Kalzium, das sie enthält, so verarbeiten, dass sie den schädlichen Fruktifizierungsprozessen (Pilzerkrankungen) der Pflanze entgegenwirke und sie einfach gesünder erhalte (Rudolf Steiner). Um diese ihre Macht zu verstärken wird die Kamille in den Dünndarm einer Kuh gefüllt und über Winter in die Erde vergraben. Das ergibt dann ein weiteres Präparat, mit dem wir und alle Biodynamiker ihre Komposte impfen.

In diesem Zusammenhang möchte ich das Buch «Die biologisch-dynamischen Präparate" von Erdmut Hoerner wärmstens empfehlen.

Unsere ehemalige Mitbewohnerin und Dichterin Natasha ist mit ihrer Familie zurück in Irpin. Ich übersetze hier den Brief, den sie uns geschickt hat.

«Hier eine Foto von den Scherben und Splittern. Diese haben wir bei uns zu Hause gefunden. Einer von ihnen ist mitten durchs dicke Buch «Die Chronik von Narnyj» gedrungen und der andere hat die «Märchen von Deniskyj» durchbohrt. Die Häuser um uns herum, sie sind heruntergebrannt und einige kann man nicht wieder herstellen. Aber die Menschen kommen nach und nach zurück und fangen an, etwas zu tun.
Die Menschen haben immer Hoffnung und Träume, und das gibt Kraft.
Von uns allen herzliche Grüsse. Wir erinnern uns die ganze Zeit an Potutory. Babushka Sina und Stepan haben sogar ein kleines Gedicht geschrieben.

Wir werden lange von Potutory träumen.
Und von Wunder-Cristina und dem Spassmacher-Ivan. Und der Herde der Kühe auf der Weide spazierend.
Und vom kolossalen und drohenden Stier Velikan (Riese).»

Am nächsten Tag:
«Heute sind wir alle zu Hause. Wolodja hat frei, und Babuschka plant erst morgen, zu sich nach Hause zu gehen (nach Kiev).
Ich konnte heute lange nicht einschlafen. Durchs Fenster ist alles vollkommen dunkel.- Die Strasenlampen brennen nicht, ja und überhaupt, wenn jemand nach Hause kommt, dann zündet er kein helles Licht an. Aber dafür scheint jetzt hell der Mond, er hilft ein bisschen, und es gibt wunderschöne Sterne. Aber wie haben denn unsere Vorfahren im Dunkel gelebt? Wahrscheinlich waren sie sehr mutig.»

Sie fährt nächstens in die Schweiz, um ihre Tochter Sasha zu besuchen und überhaupt, um etwas in der Welt herumzukommen. Die Welt steht ja den Ukrainern plötzlich offen. Aber sie kommt zurück, die Natasha, zum Glück, denn solche Menschen brauchen wir in der Ukraine.
Ira und ihr Sohn Dima werden morgen auch Richtung Westen abfahren, denn Dimas Zukunftsziel ist es, an der TU in Berlin zu studieren.

Unsere Flüchtlinge verlassen uns langsam in Richtung Heimat. Die Mütter bleiben noch mit den Kindern, da dieselben hier in Potutory Online-Unterricht bekommen, und manchmal auch von den Lehrerinnen besucht werden und umgekehrt. Aber die Väter sind als Vorhut nach Irpin zurück. Bei allen von unsern Familien stehen die Häuser noch, wenn auch beschädigt. Dem Vernehmen nach gibt es sogar auch schon Aufbauprogramme, nur weiss man nicht, mit wieviel Bürokratie das verbunden ist, und wann Gelder fliessen werden. Von den so grosszügig geflossenen Spenden, die wir für unsere Flüchtlinge bekommen haben, können wir jeder Familie ein kleines Startgeld von 5'000 Grivnas mitgeben, was zwar nicht viel ist, aber zusammen mit dem Lohn haben sie doch ein bisschen Geld von uns mitnehmen können.

Die Ereignisse rund um das Asowstahlwerk haben uns alle sehr beschäftigt. Natasha hat von den Soldaten, die dort ausgeharrt haben, Fotos gezeigt von vor dem Krieg und jetzt. Sie sind irgendwie wie durchsichtig, durch die ganze Schwärze ihrer Gestalt und ihres Antltzes hindurch, und ihre Augen brennen, aber nicht fanatisch.

Irgendwie war das ganz besonders mit den Menschen dort. Es muss irgendetwas Geheimnisvolles mit ihnen vorgegangen sein.

Unwillkürlich ist mir ein Gedicht von Christian Morgenstern in den Sinn gekommen.

Ich habe den MENSCHEN gesehen in seiner tiefsten Gestalt, ich kenne die Welt bis auf den Grundgehalt.

Ich weiss, dass Liebe, Liebe ihr tiefster Sinn, und dass ich da, um immer mehr zu lieben, bin.

Ich breite die Arme aus, wie ER getan, ich möchte die ganze Welt, wie ER, umfahn.

Rudolf Steiner hatte im ersten Weltkrieg gesagt, dass der Mut, das vergossene Blut, das Leid und die Opfer, die die Menschen bringen, in der geistigen Welt Früchte bringen werden, wenn Menschen auf der Erde sich ihrer Verbundenheit mit den Hierarchien bewusst sein könnten. (Das sind jetzt meine Worte, so wie ich die Aussage verstehe. Interessierten sende ich gerne den Wortlaut zu.)

Vielleicht sieht es von der andern Seite, die man nicht vergessen darf, ganz anders aus.

Heute hat uns ein junges Landwirte-Ehepaar aus der Nähe von Mariupol besucht. Die Frau hatte vor dem Krieg unsere Tees in ihrem Hofladen verkauft und hatte darum meine Adresse. Vor drei Wochen mussten sie ihren 1200 Hektar grossen Betrieb verlassen, weil er von den Russen besetzt worden war. Es ist auch nicht mehr viel davon übrig: die fahrbare Technik wurde abtransportiert und anderes kaputtgemacht. Aber den Sommerweizen hätten sie noch gesät, und sie hofften, die Ernte einbringen zu können. Was für ein Kraftstrom geht doch vom Menschen aus. Das ist wahrscheinlich, weil der eigentliche Mensch unsichtbar ist. Man hört und sieht und spürt nur seine Wirkung: seine Gestalt, seine Gestik usw.und eben diesen Kraftstrom. Der fühlt sich bei jedem Menschen völlig anders an. Darum kann ein Mensch einen Berg versetzen, er kann die Welt in Brand setzen, und er kann sie verwandeln.

Der Kampf um den Boden geht hier in unserer Gegend, und wahrscheinlich nicht nur hier, weiter. Undurchsichtige Subjekte versuchen, jedes Pai- Stück (Pai= 0,6 ha, was ein Landanteil ist, welches

jeder ehemalige Kolchosemitarbeiter nach der Wende als Privatbesitz zugeteilt bekommen hat. Aus solchen Pai-Stücken sind unsere 300 Hektaren zusammengestückelt) die undurchsichtigen Subjekte versuchen also, jedes brachliegende Paistück an sich zu reissen. Aber nicht alle Bewohner von Potutory wollen sie ihnen geben, und sie fragen Ivan, zu dem sie Vertrauen haben, ob nicht er ihr Land übernehmen wolle. Darum werden wir nun nochmals sechs Hektaren mehr zum Bearbeiten haben. Man muss dieser undurchsichtigen Konkurrenz zeigen, dass sie nicht die alleinigen Herren der Welt sind. Man kann sich anhand dieses Beispiels vielleicht vorstellen, in was für einem Raubtierdschungel wir uns befinden. Aber wir geben nicht auf. Siehe oben.

Nur noch eine kleine abschliessende Bemerkung zum Thema «Abfall»: es gibt keine staatliche Abfallentsorgung in Potutory. Jeder muss selber schauen, was er mit seinem Abfall macht. Damit die Leute ihre Abfallberge nicht irgendwohin schmeissen, z.B.in unser Zwischenlager für Flaschen oder in unsere schöne Landschaft, haben wir selbst eine Abfallsammlung im Dorf organisiert, die wir selbstverständlich auch selbst bezahlen müssen. Den gesammelten Abfall bringen wir in eine natürliche Grube oben in unserer Landschaft, wo er dann der Ewigkeit entgegen dämmert – oder auch von irgendjemandem angezündet wird. In Potutory nennt sich das Abfallentsorgung. Dieses und obiges Beispiel lässt erahnen, wieviel Aufgaben in der Ukraine noch zu lösen sind.

Nebst Klappern, Nester bauen und Frösche im Teich angeln, sind die Störche damit beschäftigt, um unsere über die Felder kriechenden Traktoren herumzufliegen und zu stolzieren und aus unserer geöffneten, Lebendigen Erde das herauszupicken, was sie und die Erde zum Leben brauchen: Würmer, Käfer, Maden, Mäuse und allerhand anderes Gewürm. Die Felder unserer schlimmen Nachbarn erleben solches nicht, denn da ist die Erde sauber, und es gibt nichts zu finden.

Bald ist unsere Lebendige Erde bereit, und wir können Buchweizen und Hirse säen.

Die Hirse vom letztem Jahr verursacht uns Kopfweh. Nach dem Winter hat sich herausgestellt, dass sie zu feucht ist, und jetzt will sie niemand kaufen, zumal es wegen des Embargos zuviel Hirse in der Ukraine gibt. Exportieren, was jetzt nämlich wieder möglich wäre, können wir sie in diesem Zustand auch nicht. Solcherart fühlt sich das Kopfweh des Bauern an. Nun haben wir angefangen, sie zu trocknen – um sie dann als Papageienfutter zu verkaufen.

Die Apfelbäume blühen, das heisst unter vielem anderen, dass die Erde warm wird, und dass man darum anfangen kann, das Hornmistpräparat zu spritzen,um die Erde zu beleben. Bis heute haben wir schon dreimal dynamisiert und gespritzt.

Letzte Woche hab ich einen ziemlich grossen Skandal verursacht im Zusammenhang mit unserem Glas- und PET- Flaschen-Lager, das sich im Vorraum unseres Heulagers im untern Teil des Territoriums befindet, das heisst, man hat nicht immer unter Kontrolle, was da unten geschieht. In meiner Potutory-Karriere hab ich dieses Abfalllager sicher schon 50 mal aufgeräumt, entweder selber oder jemanden instruiert, wie es gemacht werden muss. Und immer wieder entsteht ein Riesenchaos, weil irgendjemand einfach seinen ganzen Abfall da rein schmeisst. Und dann geht das Aufräumen und Sortieren von vorne los. Nun haben ein paar Jungs aus dem Dorf gemerkt, wie lustig es ist, die Flaschen, die da in Bigbags gelagert werden, zu zerschlagen. Unser Nachtwächter hat sie am letzten Sonntagabend auf frischer, wenn auch nicht auf erster, Tat ertappt und ihre Velos einkassiert. Die Jungs haben sich furchtbar empört und haben die halbe Dorfjugend zur Verstärkung geholt und wollten ihre Velos zurück. Ich bin dennoch nicht weich geworden und hab die Reihenfolge klar gemacht: am Montag zusammen mit den Eltern aufräumen, dann die Velos.

Am Montag Morgen waren ein paar unserer Flüchtlingsfrauen auch in diesem Abfallager, weil sie aus den dort lagernden PET-Flaschen Weidezaun-Isolatoren rausschneiden sollten. Ich selber ging aber nicht runter, um mir ein Bild von der Situation zu machen, was ein grosser Fehler war, erst am Nachmittag mit den aufräumewilligen Kindern und Eltern, um sie zu instruieren.
Da traf mich fast der Schlag. Nebst den Bigbags mit gewöhnlichem Abfall und denen mit den gesammelten Flaschen, sowie dem Scherbenteppich, lag da ein grosser Haufen weisser Säcke voller Abfallchaos. Mein erster Gedanke war, dass die Jungs auch den Abfall aus den Bigbags zerstreut, und dass unsere Flüchtlingsfrauen, als sie am Morgen hier zugange waren, diesen behelfsmässig in die weissen Säcke gestopft hätten. Mich packte einfach die weisse Wut und ich leerte den ersten Sack auf den Boden, damit der Inhalt sortiert und aufgeräumt werde. Da erhob sich ein Sturm der Entrüstung. Sie würden nie im Leben etwas aufräumen, was sie nicht gemacht hätten. Eine der Mütter war die Gemeindepräsidentin, mit der ich die Abfallsammlung und- Entsorgung des Dorfes organisiere,und mit der ich ich bisher ein gutes Einvernehmen gepflegt habe. In meiner hilflosen Wut hab ich angefangen, auf schweizerdeutsch zu schimpfen – und sie hat Ivan, den Direktor um Hilfe angerufen - was meine Wut auch nicht besänftigt hat.
Dank der Aussage einer der Flüchtlingsfrauen hab ich dann endlich verstanden, dass diese unseligen weissen Säcke mit Abfallchaos schon vor dem Scherbenhaufen da gestanden haben, weil uns wieder einmal jemand mit seinem Abfall beschenkt hatte. Daran waren die Jungs nun wirklich unschuldig. Nachdem ich noch mit der Gemeindepräsidentin geschimpft habe, dass sie Ivan anruft, anstatt mich anzusprechen, haben wir uns dann irgendwie darauf geeinigt, dass die armen, nur teilweise schuldigen Sünder einfach die Scherben zusammenkehren.

Ich war so verzweifelt – über mein Sysyphus-Schicksal in Sachen Abfall (nebst diesem Ort hab ich schon hunderte von Stunden auf und um unser Territorium Abfall von andern Leuten eingesammelt), die Aussichtslosigkeit dieses Abfallproblems und darüber, dass mich niemand versteht. Alle haben mich nur mit quadratischen Augen wie eine Halbverrückte angeschaut. Als dann nachher noch Ivan angefangen hat, mir Lektionen in Sachen Pädagogik zu erteilen, ist der Damm einfach gebrochen. So einen Wutanfall hab ich, oder etwas in mir, in meinem Leben erst zum zweiten mal produziert, was die Sache natürlich auch nicht besser macht. Plötzlich war aber wieder Meeresstille in meinem Gemüt, wahrscheinlich aus Erschöpfung, und ich konnte den ganzen Skandal einigermassen gütlich abschliessen, indem ich die Velos herausrückte, eine erklärende Entschuldigung vorbrachte, und den Eltern, die zu helfen gekommen waren, ein Glas Kräutersalz als Anerkennung in die Hand drückte.

Aber ich war noch am nächsten Morgen völlig erschöpft und muss im Übrigen weiter damit leben, dass mich niemand versteht.
Ausser Natasha, unserer Mitbewohnerin auf Zeit. Sie hatte schon vor einem Monat da unten die idealst mögliche Ordnung geschaffen und wusste, wovon ich rede. Und jetzt nahm sie sich erneut der Sache an und hat den gewünschten Zustand wieder hergestellt.

Das war jetzt ein «Schrei der Seele», wie man hier sagt. Ich bitte um Nachsicht.

Was ich daraus lernen kann? Ich verschone euch damit, kann aber versprechen, dass ich einigermassen dran bin. Abgesehen davon ist dieses «kleine» Problem, das mich da innerlich und äusserlich auf Trab hält, klein im Verhältnis zu dem, was sonst so auf der Welt läuft. Es, und wahrscheinlich auch manche andern «kleinen» Probleme hängen aber, wie man vermuten muss, auf dunkle Weise und auf den verschiedenste Ebenen mit den «grossen» Problemen zusammen.

Eben diese Natasha musste sich in diesem Zusammenhang etwas von der Seele schreiben. Siehe Text weiter unten. Aber vorher muss ich doch kurz etwas über sie erzählen.
Sie ist ein strahlender, positiver, grosszügiger und unternehmungsfreudiger Mensch. Sie ist Mutter von vier Kindern. Die älteste Tochter Sasha ist ja mit mir in die Schweiz gefahren, wo sie eine warmherzige Gastfamilie und schon eine Aufgabe als Betreuerin von ukrainischen Kindern gefunden hat. Der älteste Sohn, der jetzt etwa zwanzig wäre, ist vor zwei Jahren bei einem unglaublich anmutenden, schicksalshaften Unfall aus dem Leben gerissen worden. Er sei immer um sie und um die Familie. Das dritte Kind ist Stepan, der, wie ich schon mal erzählt habe, sehr gut erzogene Junge mit dem Down Syndrom, der wie ein Wesen aus einer andern Welt zwischen uns lebt und uns immer wieder überrascht mit seiner Unmittelbarkeit, seiner Freude am Leben und an den Menschen, seinen treffenden Bemerkungen, und doch irgendwie gefangen ist in sich selbst. Das jüngste Kind ist Mattwej, der mathematisch begabt ist und das Spiel mit dem Zauberwürfel beherrscht. Jeden Tag um fünf am Nachmittag führt Natasha unsere Friedensmeditation auf dem Hof. Sie wäre eine gute Priesterin. Aber vor allem ist sie so eine richtige Urmutter, seelenstark , warmherzig und alle fühlen sich geborgen bei ihr.

Sie erzählt begeistert von ihrer Kindheit und Jugend, die sie noch in der Sowjetunion verlebt hatte. Es war einfach alles ideal, gute Lehrer, die Interesse und Begeisterung für die Welt vorgelebt und weitergegeben haben, es gab sogenannte Konkurse in Mathematik, Literatur und allem möglichen, die die Kinder und Jugendlichen in der ganzen Sowjetunion zusammengebracht hat, es gab Erlebnisse und Aktivitäten noch und noch. Auch Natashas Mutter Sina hat sekundiert: ja, es war eine gute Zeit, es gab Arbeit, Ordnung, viele Möglichkeiten zur Entwicklung, alle waren zufrieden, sie hätten ein gutes Leben gehabt. Ich hab dann gefragt: aber Ihr wisst, was «sie» sonst noch gemacht haben? Sina meinte, irgendwie habe man davon gewusst, aber man hätte darüber geschwiegen. Und Natasha ergänzte, es habe verschiedene Phasen des Kommunismus gegeben, und sie selbst sei in einer gnädigen Phase aufgewachsen, wo die Schrecknisse der ersten Zeit verschwunden gewesen seien, und das habe dann auch erst die Wende ermöglicht.

Beide Frauen sind unglaublich liebenswert und sympathisch. Rätsel über Rätsel. Auch aus andern Quellen (Svetlana Alexejewich, «Secondhand Zeit», Leben auf den Trümmern des Szialismus) hab ich gehört, dass viele Menschen wirklich an das Ideal des Kommunismus geglaubt haben, das Soziale, Brüderliche zu leben, die Werktätigen zu ehren, den Gemeinschaftsgedanken zu pflegen. Denn unter diesem Label trat die Sowjetmacht auf. Über all das gibt es sehr viel nachzudenken.

Interessant zum Thema russisches Imperium ist auch der offene Brief von Sergej Lebedew im Anhang. Nun möchte ich aber Natasha zu Wort kommen lassen.

Reflexionen

Was machen wohl die Russen auf unserer ukrainischen Erde?
Es gibt keine Antwort.
Was wir sehen und was wir sagen können.
Sie töten einfach, vergewaltigen, foltern Kinder und Erwachsene. Sie bombardieren Städte und Dörfer, die Geschichte.

Sie rauben und plündern. Irgendwie so.
Was bringt das ihnen?
Ich denke jedesmal – wozu tun sie das alles?
Wie werden sie weiterleben, wenn sie überleben?.. Ich habe keine Antwort.

Unsere Männer vom Asow Regiment in Mariupol in Asowstal und Umgebung. Sie sind Helden. Sogar das Wort Helden ist zu gering für sie. Sie sind geistige Giganten. Sie werden jeden Tag gnadenlos bombardiert. Ohne Sinn und Zweck. Gott sei Dank ist es gelungen trotz endlosen Provokationen, Zivilisten zu retten. Putin hat dem Papst in Rom dreimal den grünen Korridor für die Rettung der Zivilisten aus Asowstal verweigert.
Was ist der Sinn einer solchen Grausamkeit? Ich verstehe es nicht.
Vielleicht hat er seine Seele dem Teufel verkauft und zieht alle nach sich?
Es ist furchtbar.
Heute hab ich im Wald Heilkräuter gesammelt. Wie schön, frei, ruhig. Warum sind die Russen hierhergekommen, um zu bombardieren? Wahrscheinlich ist ihr Land klein, und es gibt dort zu wenig zum sorgen?
Ich verstehe nicht.
Es gibt keine kleinen Leute – die Gedanken von jedem haben eine Bedeutung. Und fast alle aus ihrem Land haben den Krieg unterstützt. Wozu braucht Ihr das alles, Ihr Russen? Wenn Ihr nicht unterstützen und Tausende von Menschen hierherschicken würdet, die all das tun, was wäre dann?

Was tun denn die Russen hier?
Ich habe keine Antwort dazu, ausser –
Sie sind «einfach Faschisten».
Wenn ich den Kontrast zwischen unserer Lebenswelt und dem Krieg gewahr werde, kann ich auf die Frage, «wozu braucht Ihr das alles» keine Antwort finden. Fast 30'000 tote Russen auf fremder Erde.
Mehr als 20'000 getötete, friedliche Menschen allein in Mariupol.
Was ist das? Wozu tötet Ihr uns?
Ich habe keine Antwort.
Aber bei Euch?
Was denn, Ihr Russen, werdet Ihr nachher machen? Wie werdet Ihr denn leben?
Ich weiss nicht...
Vor sich haben die Russen nur Leere.
Und nur feine Fäden ziehen sich noch von Herz zu Herz, zwischen Verwandten und Freunden, ebenso wie in der Verbindung zwischen unsern Ländern. Dünne Fäden, die vor Anstrengung zu halten, zittern, aber dennoch reissen – dsinn!!! Mit einem schrecklichen Schmerz in meinem Herzen.
Ich bemühe mich, diese Fäden zu schützen, mit allen Kräften meiner Seele.
Nur hab ich keine Antwort auf die Frage – Was denn macht Ihr hier, Ihr Enkel unserer Grossväter?

Skizze

Am Morgen gab es dichten Nebel. So dicht, dass selbst die Dächer nicht zu sehen waren. Plötzlich bewegt sich aus dem Nebel in meine Richtung ein Flugzeug. Tief fliegt es... ein Bomber? Nur höre ich keinen Laut. Mein Herz setzt aus. Und plötzlich erscheint ein Storch auf schwebenden Schwingen. Uff. Wie schön...zum Glück.

Natasha Zhazhdova, Potutory 10.5.202 Übersetzung Cristina Lieberherr

Die Frösche unten im See konzertieren fast Tag und Nacht. Die Störche klappern und fliegen stolzieren in der Gegend herum. Der Kuckuck ruft, gestern sogar von einem Stromdraht neben dem Garten, und es gab tatsächlich Regen, womit ein ukrainischer Bauernspruch bestätigt worden wäre, dass, wenn der Kuckuck ins Dorf kommt, es Regen gibt, in diesem Fall waren es immerhin fast 5 mm, was natürlich viel zu wenig, aber besser ist als nichts.

Hier hat zur Zeit auch eine Anbauschlacht angefangen. Möglichst alle brachliegenden Felder aus Staats- oder Gemeindebesitz werden an Interessierte zum halben Pachtzins vergeben, aber vorläufig nur für ein Jahr. Wir haben den Zuschlag für vielleicht 20 Hektaren bekommen, und dieses Feld befreien wir nun von der Verbuschung, mit Hilfe unserer Flüchtlinge, was ein sehr grosser Chrampf ist. Die Männer legen sich bewundernswert ins Zeug, und auch der 14 jährige Artem lässt sich nicht lumpen, und zeigt am Nachmittag, dass er, nachdem er den ganzen Morgen online-Unterricht hatte, bald ein Mann ist.
Und rundherum greifen sie zu, die Interessierten von anständiger und weniger anständiger Provinienz. Ivan meint, es seien vor allem Banditen. Was das genau heisst, konnte ich nicht in Erfahrung bringen.
Wahrscheinlich gehören auch die kerngesunden, jungen, kräftigen Männer der Geldwechsler-Mafia dazu, die täglich auf dem Markt stehen und grosses Geld damit verdienen, indem sie dem lieben Gott die Zeit stehlen. Und alle Leute wechseln ihre sauer verdiente starke Währung bei denen, weil es so viel einfacher und ergiebiger ist als auf der Bank. Auch ich. Sie stehen da total illegal und dermassen selbstherrlich, dass es stinkt, sie zahlen keinen Cent Steuern, aber keine Polizei oder sonstwer rührt sie an. Nur ich hab mal zwei von ihnen gefragt, ob sie sich nicht schämten, das zu tun. Sie treten auch noch als Darlehensgeber auf, verlangen Wucherzinsen und beschlagnahmen dann die Sicherheitsobjekte. Es war im Übrigen auch vorher schon ein Hobby von ihnen, ihr grosses Geld in Getreideanbau anzulegen, nebst den Skiferien in der Schweiz.
Von Subjekten solcher Provenienz also wird Mütterchen Erde nun malträtiert.

Kürzlich, als ich am Abend unsere müden Frauen nach Hause, d.h.nach Possukhiv chauffiert habe, hat Oksana Igorjevna die neusten Dorfskandale zu diesem Thema zum Besten gegeben. Igorjevna ist, wie ich schon mal angetönt habe, der Prototyp einer fidelen, vor Energie strotzenden Frau, mit der man Rosse stehlen kann. In Augen- und Mundwinkeln lauert immer ein fröhlicher Schalk, und sie kann die ganze Truppe unterhalten. Ihre Busenfreundin Oksana Mykolajevna wird auch lebhaft und fidel, wenn sie mit ihr zusammen ist.

Igorjevna hat also von dem «Bauern» erzählt, der in breiten Talmulde westlich von unserem Sitz auf dem Hügel ebenfalls den Zuschlag für ein Feld bekommen hat. Er wollte das Durchfahrtsrecht durch Possukhiv. Die dortige tüchtige Gemeindepräsidentin hat ihm dieses verwehrt, weil er mit seinen Riesenmaschinen die sowieso desolaten Strassen noch ganz unbefahrbar machen würde . Daraufhin ist er an die Gemeindepräsidentin des auf der andern Seite liegenden Dorfes gelangt. Die hat ihm für einiges Bares die Bewilligung gegeben. Von diesem Dorf bis zum Feld gibt oder gab es aber noch keine Strasse. Kurzerhand und anscheinend ohne die Kosten zu scheuen hat er die Strasse in den letzten Tagen und Nächten gebaut und Riesenladungen von Schotter angekarrt. Da kann man sich ein bisschen ausrechnen, was für einen Profit er einfahren will.

Aber wir sammeln unverdrossen Löwenzahnblüten für unser biodynamisches Kompostpräparat 506. Er blüht nämlich, der Löwenzahn, und wie. Und wir, oder mindestens ich, glauben an die unglaubliche Gewalt, die wirkt, um diese Löwenzahnblüte zu bilden. Sie ist die reine Sonnengewalt, nur dass man ihr direkt ins Angesicht schauen kann. So gelb, so kompromisslos gelb strahlt sie in die Landschaft hinaus, sie lässt keine andere Farbe zu, keinen grünen oder orangen Stempel, nicht einmal andersgelben Blütenstaub, den hat sie nämlich sowieso nicht, denn sie betreibt Parthenogenese, sie ist einfach nur löwenzahnsonnengelb. Oder wird das Gelb gar von oben, von dort, wo die Sonne ist, angesogen? Jedenfalls ist die Löwenzahnblüte absolut nicht der Erdenschwere

unterworfen, das sieht man, sie hebt sich empor, sachte, aber beharrlich. Wenn der imposante Stengel, der zwar hohl ist, wie man weiss, aber dennoch imposant, die auf den ersten Blick vierschrötigen, bittergrünen Blätter, die zwei Meter lange Pfahlurzel und überhaupt die ganze Bitterkeit nicht wäre, würde die löwenzahngelbe Blüte einfach nach oben entschweben in Richtung Sonne. Aber der ganze Löwenzahn macht das eben nicht, denn er will Himmel und Erde verbinden, nicht trennen.

Rudolf Steiner sagt von ihm, er sei ein Himmelsbote. Er sagt von ihm auch, dass er imstande sei, die Kieselsäure heranzuziehen aus der ganzen kosmischen Umgebung. Die Kieselsäre habe die allergrösste Bedeutung für das Pflanzenwachstum, denn sie würde das Kosmische hineinziehen. Und in der Pflanze müsse das richtige Wechselverhältnis entstehen zwischen Kieselsäure und Kalium. Wir müssten den Boden dazu beleben, dieses richtige Wechselverhältnis auszugestalten. Der Löwenzahn sei in der Lage, „in homöopathischer Dosis beigesetzt, dem Dung die entsprechende Macht zu geben.“ Beiläufig bemerkt finden sich in der Asche der ganzen Pflanze, bezogen auf das Trockengewicht, nebst andern Substanzen 7% Kieselsäure und 40% Kaliumoxid.

Um diese Macht des Löwenzahns noch zu verstärken wird dann das eigentliche Löwenzahnpräparat (506) mit Hilfe eines Stückes Gekröse der Kuh, über dessen Funktion zu erzählen auch unglaublich interessant wäre, hergestellt. Das Präparat 506 ist eines im Reigen von sechs, mit welchen wir die Mist- und andern Komposte impfen, die dann auf unsere Felder und in den Garten ausgebracht werden, eben, um die Erde in der richtigen Weise zu beleben.

Ja, mit dieser Sorte Macht möchten wir uns gerne verbünden. Jedoch: die biodynamischen Präparate richtig herzustellen und die Mutter Erde so zu bearbeiten, dass die Macht und das Potential der Präparate sich voll entfalten und wirken kann, ist eine hohe Kunst.

Heute hat Evgen Boyko, unser Historiker, Traktorist und Lebenskünstler und Milchmann, der nun schon sechs Jahre pflügend, kultivierend, striegelnd, eggend über unsere Felder fährt, und durch die vierschrötige Technik hindurch den Boden spürt, denn das kann man, gemeint, er sehe und spüre heute einen grossen Unterschied zu vor sechs Jahren, was Textur, Struktur und Konsistenz des Bodens betreffe. Immerhin, aber wir sind vom Ziel dennoch relativ weit entfernt.

Kürzlich waren unsere beiden Oksanas wieder einmal zusammen in der Milchverarbeitungsküche. Von weitem schon hörte ich wieder ihre lebhafte, angeregte Unterhaltung. Der Austausch von allerwichtigsten Neuigkeiten überbordet i m m e r , wenn die zwei zusammen arbeiten. Und sie kennen meine Meinung dazu. Wenn man hier jemandem beim Arbeiten begegnet, entbietet man ihm den Gruss: gebe Gott Dir Glück! Die Antwort ist: danke, gebe Gott es auch Dir! Diesmal hab ich den Gruss abgewandelt in: gebe Gott Euch Glück – und wenig Worte. Was ich, ehrlich gesagt, ziemlich lustig fand. Und sie auch, so haben wir zusammen gelacht. Aber ob es genützt hat, wage ich zu bezweifeln.

Gestern nun bekam ich ein Telefon von Igorjevna. Ihre Stimme klang völlig desparat. Ich müsse sofort in die Milchverarbeitungsküche kommen. Ob es wegen etwas Schönem oder wegen einer Katastrophe sei? Wegen einer Katastrophe.
Da standen nun also die zwei Schwerenöterinnen, bleich, ja grau, vor der Pfanne mit den 5 Litern Sahne zum Butter machen. Darin schwammen drei tote, kleine Ratten. Aber die Worte waren ihnen noch nicht ausgegangen. Immer wieder erzählten sie mir wort- und gestenreich, wie es ihnen gegangen sei, als sie das entdeckt hätten, dass sie nichts dafür könnten usw. Schlussendlich haben wir dann herausgefunden, dass diese Ratten ziemlich sicher aus der unverschlossenen Kanalisation den Weg in den Rahm gefunden haben. Bis wir eine Lösung für das Verschliessen der Kanalisation gefunden haben werden, wird jetzt deren Ausgang mit einem schweren Kübel versperrt. Im Übrigen breiteten wir Schweigen über diese Angelegenheit – und: aus der Sahne wurde keine Butter mehr gemacht.

Das waren ein paar Vorkommnisse von den vielen, die es zu vermelden gäbe. Nur noch soviel: die Welt ist wunderschön mit dem ergrünenden Grün in den Bäumen und überall, den aufblühenden

Apfelbäumen, den blühenden andern Obstbäumen- und dem allüberall aufstrahlenden, millionenstimmigen Signal des Himmelsboten Löwenzahn.

Fast einen Monat lang hab ich mich nun sonstwo auf der Welt herumgetrieben. Und überall war dieser Krieg d a s Thema. Ich weiss immer weniger, was ich darüber denken soll. Sogar das Fühlen ist wie abgestumpft. Es ist wie eine Wunde, die man irgendwo hat, und die einen zwar nicht umbringt, aber auch nicht richtig leben lässt. Aber das ist ein kleines Problem im Vergleich zu dem, welches die direkt betroffenen Menschen überall auf der Welt, wo es Krieg gibt, erleiden müssen.

Was kann ich machen, das ist doch die grosse Frage? In einem Krieg entladen sich lang aufgestaute Probleme, wer weiss, wie lange aufgestaut, seit 30, 100, 1000 Jahren? Und mindestens müsste man doch versuchen zu verstehen, was denn diese Probleme sind, damit man etwas daraus lernen kann, damit es nicht wieder passieren muss. Und es kann ja auch nicht so eine eindimensionale Erklärung von der Sorte sein, dass der Westen zu gutgläubig gegen das russische Imperium war, und dass alle Politiker, die das Gespräch gesucht haben einfach nur naiv waren. Und dass die einzige Antwort auf Gewalt nur Gewalt sein kann, bis zum bitteren Ende.

In Charkiv lebt der ukrainische Schriftsteller Sergej Gerassimov, und harrt dort bewusst aus. Er schreibt ein Kriegstagebuch. In der 53. Folge (NZZ 28.4.22) hat er folgendes geschrieben.

„Tatsache ist, dass sich das Universum verändert. Es entwickelt sich von den einfachen zu den komplexen Dingen, und da das Böse immer primitiver ist als das Gute, lässt das Universum das Böse immer hinter sich für das Gute. Immer.
Die Zeit selbst ist ein mächtiger Strom des Guten, und alle bösen Dinge, die über uns kommen, sind nur kurzlebige Wirbel darin. Deshalb pflanze ich heute meine kleinen Tannenbäume um. In etwa zehn Jahren, wenn sie zu gross geworden sind, um bei mir zu Hause zu bleiben, werden wir sie irgendwo in den Wald pflanzen.“

Es bleibt für mich auch hier die Frage: was kann ich tun, um die sieghaften Kräfte, die Kräfte oder Wesen, die den Menschheitsfortschritt wollen, zu verstärken? Denn ein Automatismus ohne das Mitwirken des Menschen kann es ja auch nicht sein.

Ich werde nun versuchen, weiterhin von unserem Alltag in dieser Zeit zu berichten, und ich möchte damit einfach versuchen, das Leben auf der Erde zu ehren. Denn trotz Krieg soll das ja nicht vergessen werden.

Fast alle unsere Flüchtlinge sind noch hier. Eine Familie und eine Frau sind jedoch schon zurück nach Kiev und Umgebung gefahren, um beim Aufbau mitzuhelfen. In Kiev soll es schon wieder Wasser, Elektrizität und Gas geben, sogar das Tram fährt teilweise.
Eine Delegation unserer Irpin-Leute hatte vor zwei Wochen einen Sondierungs-Besuch in Irpin gemacht. Alle ihre Häuser, wenn auch etwas versehrt, stehen noch. Aber die Infrastruktur in der Stadt ist noch nicht wiederhergestellt. Sie wollen nun den 9. Mai abwarten, dieses Rubikon-Datum. Der 9. Mai ist Russlands grosser Festtag, wo das Ende des «Grossen Vaterländischen Krieges» (zweiter Weltkrieg) oder der «Tag des Sieges» begangen wird, und wo Putin dieses Jahr ja irgendeinen Sieg vorweisen können will. Und dann, wenn nicht irgendetwas Schreckliches passiert sein wird, wollen sie nach Hause – und aufbauen.

Bei uns hier in Potutory ist viel gegangen während meiner Abwesenheit. Die neu geputzte Weide ist bereit. Die Dorfbevölkerung erlaubt uns, jenseits des Flüsschens unsere Kühe

weiden zu lassen. Dafür pflegen wir für ihre Kühe das Stück Weide diesseits des Flüsschens, sowie ein Stück Wiese zum Heuen. So sollte die Kirche im Dorf bleiben. Das hat er wieder gut gemacht, der Ivan.
Die Flüchtlinge haben mit Hilfe von Bulldozzer und Kran die ganze Umgebung rund um unsern untern grossen Stall, der als Heulager verwendet wird aufgeräumt, von Dschungel und Abfall befreit, so dass man jetzt dieses Territorium für etwas brauchen kann: als Weide für die Kälber, wenn dann mal Gras eingesät ist, und den freigelegten, befestigten Platz zur Lagerung von Siloballen.

Auch das Brennholz ist zersägt, gespalten und anständig gestapelt.

Heute hab ich mit Ivan eine Exkursionsfahrt durch unsere Felder gemacht. Wie schön es wieder ist in unserer Landschaft. Das Wintergetreide «sieht teilweise nicht schlecht aus» (Ivan), obwohl es ein niederschlagsarmer Winter war. Sommerweizen und Hafer sind auch schon am Wachsen, die Gründüngung ist gekeimt. Jetzt müssen wir nur noch Hirse und Buchweizen säen. Aber alles braucht Regen.

Voller Zukunft liegen sie nun also da, unsere lichtgrünen oder noch braunen Felder, unter dem grossen Himmel der Ukraine. Ein bisschen arm zwar, vor allem wenn man sie mit den satt blaugrünen Wintergetreidefeldern unserer schlimmen Nachbarn vergleicht, aber schön und voller Stimmung.

Und in den Gebüschen und Wäldern, von denen sie umfasst sind, wuselt es auch von millionenfältigen Wundern. Die vielen Ahorneschen und die Ahorne blühen und treiben schon kleine Blattbuketts aus hunderttausenden von Knopsen, die verschiedenen Weiden tun letzteres auch und tragen zusätzlich schon Heerscharen von Samenkätzchen. Das Resultat von all dem sind vibrierende Wolken von zärtlich mattem, warm duftendem Grün, die überall aus dem Gehölz aufsteigen. Und dazwischen die Friedensbanner der blühenden Kirschen, Mirabellen und Schlehen. Wie weiss, weiss ist doch so ein Schleier von Schlehdornblüten in den schwarzen Dornen. Und wie rührend und zum anbeten schön ist doch jede kleinste Schwarzdornblüte. Fünf weisse, weisse, wie hingehauchte Blütenblättchen entschweben dem grünlichen Blütengrund, der sich mit den daraus aufsteigenden weissen, von einem orangen Blütenstaubtupf gekrönten Staubfäden und dem grünlichen Stempelchen wie ein winziges Diadem ausnimmt. Ein Bild des Himmels, was denn sonst?

Unsere Anja, die Melkerin, kam gestern aus Polen zurück. Sie und ihre Mädchen wollten einfach wieder nach Hause. Damit es schneller geht, ist Anja selber mit ihrem roten, unzuverlässigen Schiguli die ganze Strecke von Polen her gefahren, wenn auch ohne Fahrausweis. Aber anscheinend ist alles gut gegangen. Auch das zeigt, was für ein unerschrockenes Kaliber unsere Anja ist. Und heute stand sie schon wieder in altgewohnter Frische und Fröhlichkeit im Melkstand.

Im Übrigen ist sie es jetzt, die ihre Mutter jeden zweiten Abend zu Milli, dem alten, starrköpfigen Dämchen, chauffiert. Milli weigert sich noch immer standhaft, ins Altenheim zu dislozieren.

Dem Vernehmen nach kommt auch unsere Kräuter-Ljuba bald zurück.

Am Freitag, am Geburtstag meiner Enkelin Julia, haben wir unsere frisch aufgesetzten Mist- und Kompostmieten mit den biodynamischen Kompostpräparaten präpariert. Die Art wie wir die Mistmieten aufsetzen, birgt noch Verbesserungspotential. Geholfen haben mir Nadezhda und Inga. Nadezhda ist eine unserer fleissigen und stillen neuen Mitbewohnerinnen, die auf dem Dorf aufgewachsen ist. Das heisst, sie kann arbeiten und hat keine Berührungsängste gegenüber den verschiedenen Erscheinungsformen des Lebens. Sie versorgt auch die Kälber, wenn unsere Kälberpflegerin frei hat. Tapfer ist sie mit mir über die zerklüfteten Mistmieten balanciert und hat geholfen, die Löcher zu machen, mit den Präparten zu füllen und zuzustopfen, was unter diesen Umständen ein anstrengender Hochseilakt war. Inga, die Agronomin mit dem Spezialgebiet Pflanzenschutz und dem Doktor in Screening von Untersuchungsmethoden, hat derweil auf der sicheren und mehr oder weniger sauberen Wiese daneben das Baldrianpräparat gerührt. Ich hatte das Gefühl, dass sie einen leichten Schock hatte von unserer barbarischen, so gar nicht labormässigen Methode. Mein miserables Russisch reicht leider bei weitem nicht aus, um meine Begeisterung dafür rüberzubringen.
Heute, am heiligen Sonntag, hab ich noch all unsern Hornmist präpariert, sodass wir dann unsere Felder mit präpariertem Hornmist, dem sogenannten P 500 (nach Podolinsky), spritzen können.
Das sind so die Arbeiten, nebst der Pflege der Blumenbeete u.ä., die ich vor meiner Abreise, die auf Mittwoch geplant ist, noch machen will.
Aber es ist so kalt geworden, ja der Boden ist gefroren, dass ich nicht weiss, ob ich das mit den Blumenbeeten noch schaffe. Vielleicht kann ich sie Natascha anvertrauen. Sie sagt nämlich, an ihre eigenen Blumenbeete lasse sie niemanden ran. Das zeigt, dass sie eine Ahnung von Blumenbeet-Pflege und deren Tücken hat.

Ansonsten ist bei uns so etwas wie Alltag eingekehrt. Unsere besonderen Gäste fühlen sich irgendwie zu Hause, kochen, machen Tee, lachen und scherzen miteinander, wie es die Ukrainer gerne tun. Sie verfolgen jedoch gespannt, wie sich die Situation in ihrem Heimatort entwickelt, um abzuspüren, wann sie vielleicht heimkehren können. Es gibt da kein Gas und kein Wasser mehr, alles muss zuerst wieder hergestellt werden, zudem gibt es Minen (!!!) und nicht explodierte Sprengsätze, die zuerst entschärft werden müssen (!!!!). Aber es scheint, dass die Stadtverwaltung das alles im Bewusstsein hat und schon anfängt, den Wiederaufbau zu organisieren.Für ihren Stadtpräsidenten sind sie voller Bewunderung. Sie hätten sich früher fürchterlich über ihn aufgeregt, weil er nicht wenig in seinen eigenen Sack gewirtschaftet hätte, aber jetzt sei er wie der Kapitän, der das Schiff nicht verlässt. Schon die Evakuationen habe er gut organisiert, und jetzt kümmere er sich um die Rekonstruktion der Infrastruktur.

In der Nacht wurde über Ternopil eine Rakete von «Unseren» abgeschossen.

Und jetzt, heute, am 4. April, drei Wochen später als seit hunderten von Jahren, ist die Hauptstaffel der Störche eingeflogen! Ach wie herrlich. In grosser Formation kreisten sie fast ohne Flügelschlag, auf dem kalten Nordwind segelnd, über Potutory. Es kommen einem einfach die Tränen in die Augen. Ein Paar nach dem andern verabschiedete sich in seine luftige Sommerheimat. Alles wird gut!

Alexander Kovar oder Sasha, wie er sich nennt, ist ein weiterer unserer sehr netten Gäste. Er fällt durch seine Ruhe, Bescheidenheit, Freundlichkeit und Sicherheit auf. Er ist in Irpin geboren und aufgewachsen. Dort hat er die Hauptschule (bis zur 10. Klasse) abgeschlossen. Mit einer Goldmedaille, hat mir seine Frau zugeflüstert. Überhaupt hat die ganze Familie mit strahlenden Augen dem Interview beigewohnt.

Nach Sudienabschluss als Ingenieur im Polytechnischen Institut in Kiev, Fachrichtung Mechanik und Chemie, hat er, noch während der Zeit der Sowjetunion, in verschiedenen Bereichen gearbeitet: in einer Zulieferfirma für Zementproduktion, in der Herstellung von Gussformen und in einer Fabrik für Elektrogeräte. Dort wurde ihm in der Folge die Verantwortung für die Wasserreinigung übertragen. Diese Fabrik prosperierte, und man trug sich mit grossen Erweiterungsplänen, für deren Entwicklung und Umsetzung er die Projektleitung zugesprochen bekam. Aber dann kam das Jahr 1990, wo alles in der Sowjetunion anders wurde. Das die halbe Welt umspannende Imperium fiel auseinander und mit ihm alle Wirtschaftsbeziehungen innerhalb seiner. Die Ukraine wurde im Jahr 1991 selbständig, die blühende Elektrogerätefirma bekam keine Aufträge mehr und Sasha fand sich auf der Strasse. Ich stelle mir vor, dass er zuerst unter Schock stand und sich dann ganz ruhig nach einer neuen Arbeit umsah. Die ganze industrielle Produktion in der Ukraine war hinunter gefahren worden, darum fand sich auf seinem Spezialgebiet keine Arbeit. So fing er auf dem Bau an zu arbeiten, wo es seither immer Arbeit gibt, und bald schon war er Brigadier. Sein nächster Job war Händler, als welcher er die Lebensmittellieferung in verschiedene Läden organisierte. Seine ehemalige Fabrik produzierte unterdessen elektronische Disks und CDs, und hier fand er für dreizehn weitere Jahre sein Auskommen. Als die Internetbranche immer mehr boomte, und Datenträger immer weniger gefragt waren, musste er sich wieder neu orientieren. Zuerst arbeitete er als Logistiker bei der internationalen Firma Watson, sodann als Manager in einer Fabrik für Möbelbeschläge. In letzter Zeit sattelte er nochmals um und wurde Auditor in einer Beratungsfirma. Und dann kam der Krieg. Und dann kam er nach Potutory.

Seine Frau Olja kam zuerst mit den zwei Söhnen. Und wie blühte sie auf, als ihr Mann Sasha eine Woche später auch aus Irpin fliehen und nach Potutory und zu seiner Familie kommen konnte.
Er ist einer der nicht sehr Vielen, der täglich und pünktlich zur Arbeit kommt, und ruhig und überlegt da mitarbeitet, wo es nötig ist: kaputte Baumeinhagungen auf der Kälberweide auseinandernehmen und entnageln(!), die neue Weide vom aufwachsenden Baumwuchs befreien, Brennholz spalten und anständig stapeln. Man kann sich sehr gut vorstellen, dass man ihn einfach überall brauchen kann. Am Wochenende spielt er mit seinen Kindern Schach und hat Zeit für sie, aber er ist auch in ständiger Sorge jetzt darüber, wie sich der Krieg entwickelt und untröstlich, dass sein schönes Irpin fast nur Ruinen ist. Über ihr eigenes Haus wissen sie nichts. Er sagt, das Wichtigste im Leben sei für ihn die Familie.

Rudolf Steiner sagt über die Schafgarbe: So, «wie manche sympathische Menschen in der Gesellschaft durch ihre blosse Anwesenheiten wirken, nicht durch das, was sie sprechen, so wirkt die Schafgarbe in einer Gegend, wo sie viel wächst, schon durch ihre Anwesenheit ausserordentlich günstig». Was Rudolf Steiner auch sonst noch über die Schafgarbe schreibt, ist meiner Meinung unglaublich interessant und rätselhaft und ein Meditationsinhalt. Mehr dazu kann man in seinem «Landwirtschaftlichen Kurs» im fünften Vortrag nachlesen.

Mir scheint, dass Sasha irgendwie etwas von einer Schafgarbe hat.

Es gibt auch eine wunderbare Frauenbrigade von vier Frauen, die immer in bester Laune und tip top organisiert zusammen arbeiten. Die würde ich gerne ein anderes mal porträtieren, dann könnte ich selber auch ein bisschen mehr von ihnen erfahren, als nur, dass sie gerne und gut arbeiten; heute haben sie z.B. im Bigbag-Lager wunderbar Ordnung und System geschaffen. ( Wie figura zeigt: diese zwei Dinge werden bei uns hochgehalten, mindestes dort, wo ich „Regierung mache“, wie Ivan sagt.)

Dem allem kann man entnehmen, dass nicht nur wir unsern „Flüchtlingen“ etwas geben, nämlich einen sicheren Ort und Arbeit, wo sie ein bisschen „vergessen“ können, sondern dass ihr Hiersein für uns auch eine grosse Bereicherung ist.

Wie schnell die Zeit vergeht. Einen Tag hab ich migränefrei genommen, das heisst, ich bin jetzt wieder wie neu, mindestens fast.

Wir haben den zweiten Lastwagen mit Dinkel geladen. Zum zweiten mal wurde mir die Ehre zuteil, den ganzen Prozess zu überwachen, d.h. jeden big bag genauestens zu kontrollieren, ob es unten oder seitlich oder oben nicht ein heimliches Mausloch gibt, und ob innen der Dinkel schön sauber ist. Es gab nur in einem big bag Spuren. Und die eine Maus hab ich gefangen. Merke: es empfiehlt sich im allgemeinen, Getreide vor dem Verzehr zu reinigen. Ich nehme nicht an, dass es nur bei uns eine Maus gibt. Wir mussten zwei verdächtige big bags sicherheitshalber mit Kübeln in einen frischen big bag umladen, aber es weiter nichts Kompromittierendes mehr gefunden. Ich hab unsere Khlopzis ein bisschen gejagt und ihnen nicht einmal die Znünipause gegönnt. Das war nicht besonders nett von mir. Trotzdem haben sie sich ins Zeug gelegt, und nach zwei Stunden war der Lastwagen mithilfe unseres Frontladers und des millimetergenau manövrierenden Traktoristen Bogdan piccobello geladen. Bogdan hat mir erzählt, dass man früher für so etwas, mit einem gemieteten Monitou, fast einen Tag gebraucht habe.

Wegen des ersten Transportes mussten wir einige Telefonate mit der Grenze in Gerlach und dem Chauffeur führen, weil er dort fast zwei Tage stehen musste. Wegen der Russland-Sanktionen, die die Schweiz mitträgt, muss nun jede Lieferung aus dem Krisengebiet durch ein internationales Embargo- Gremium geprüft werden, und das kann bis zu 48 Stunden dauern! Ja, wir leben alle in einer Weltwirtschaft, dadurch sind wir alle, vom hintersten Chrachen in der Schweiz bis nach Usbekistan und was weiss ich wohin, miteinander verbunden, wie Brüder und Schwestern. Wir müssen nur noch lernen, das zu leben. Unterdessen hat der erste Lastwagen grünes Licht bekommen und die Freigabe für den zweiten liegt auch schon vor.

Nachdem wir den Weizen fertig gesät haben, konnten wir ein schönes Stück Hafer säen, und heute hat es Gott sei Dank einen wunderbaren, sanften Frühlingsregen gegeben. Was für ein Segen.

Der Spendenaufruf für Flüchtlinge war so erfolgreich (bis jetzt ca.32'000 CHF), dass wir unseren Gästen einen kleinen Lohn geben können. Ich glaube, sie schätzen es.

Die Störche sind gekommen! Unsere Gäste haben gesehen, wie die ganze Staffel angeflogen kam. Nur ich leider nicht.
Unser Dinkellastwagen ist nun in Polen. Wir hätten ja auch noch 2 Lastwagen Hirse und einen Lastwagen Hafer für die Steinermühle an Lager. Aber diese zwei Getreide sind für die Ausfuhr blockiert – bis zur nächsten Ernte. Man weiss ja noch nicht, was das für eine Ernte wird, jetzt, wo über die schwarze Erde im Nordosten die Panzer fahren, und In ihrem Schoss die Minen lauern.

Das Säen auf unserer nicht ganz so fruchtbaren, aber von Friede gesegneten Erde geht weiter, nach dem Kultivieren und Eggen selbstverständlch. Der Kultivator muss schon wieder repariert werden, wie das bei unserer Altmetall-Ausrüstung üblich ist. Aber unsere Traktoristen sind die Ruhe selbst, nur Ivan ist permanent unter Strom, jagt und stösst und schiebt, dass es vorwärts geht und die Leute nicht «spielen»; er organisiert Ersatzteile, telefoniert in der Weltgeschichte herum, um irgendein Problem zu lösen (z.B.einen grossen Traktor zu suchen, den wir dank einer grossen Spende kaufen dürfen, was aber in der Ukraine nur geht, wenn man 50% Cash, d.h.schwarz zahlt, was wiederum für uns nicht geht, darum suchen jetzt unsere Freunde in der Schweiz nach einem gebrauchten Case oder John Deere), er kontrolliert selber die Reparaturen, steigt auf den Traktor zum Kultivieren oder holt und bringt unsern Hof-Schweisser Dolgan, welcher ein Goldstück und ein Künstler ist, sowohl beim Schweissen, wie im Leben. Er wohnt mit seiner Schwester weit weg vom nächsten Dorf im Wald, das Wasser müssen sie 50 Meter weit tragen. Er arbeitet grad soviel, dass es ihm zum Leben reicht- und zum Trinken, worunter nicht Wasser trinken zu verstehen ist. Aber für uns arbeitet er immer, wenn man ihn ruft, weil er uns irgendwie gern hat, vor allem den Ivan. Auf ihn hört er immer, auch sonntags und abends. Er ist bei uns ein Freelancer mit Sonderstatus, vor allem mit dem, dass er sogar mit einem gewissen Alkoholpegel arbeiten darf. Der Pegel gehört einfach zu seiner Conditio humana, anders funktioniert er nicht, ja er wird sogar unter dieser Bedingung noch besser. Das akzeptieren alle bei uns, auch diejenigen, von denen zwei Tageslöhne «Strafe» abgezogen werden, wenn der Alkotester gepiepst hat.

Heute wurde der Vater von unserer Oksana Igorjevna beerdigt. Die Aussegnung fand am Nachmittag statt, es kamen viele Menschen und die meisten mussten draussen stehen. Die Sonne schien, die Kirsch- und Apfelbäume und Ahorne und Eschen standen schwerelos, und der Himmel zog ihre erwartungsvollen Kronen empor, dem Licht entgegen. Die Gesänge zum Aussegnungsritual fluteten in diese Stimmung hinaus, sehnsüchtig, trostgewiss, wunderschön: Gott, erbarme Dich unser. Aber der Ostwind blies kalt und erbarmungslos. Da kam ein Storch geflogen, er segelte, mit seinen grossen, starken Flügeln den Wind ausbalancierend, in unsere Richtung, kreiste zwei, dreimal über unserer Versammlung und verschwand. Jetzt hab ich den ersten Storch gesehen – und zwar im Fliegen, was laut hiesiger Interpretation ein gutes Omen ist.

Am Abend ist der Sommerweizen fertig gesät worden. Unsere Traktoristen sind einfach super.

Wenn vielleicht jemand einen Occasion Case mit ca.250PS oder einen John Deere 8400 weiss, bitte meldet Euch bei uns.

Immer noch keine Störche, aber dafür ist ein ganzes Geschwader Silberreiher eingeflogen, die unsern See in Besitz genommen haben. Es ist ein Zauber, wenn dieses leuchtende Weiss durch die Luft schwingt. Aber wenn sie dann auf ihren hohen Stelzbeinen mit eingezogenen Hälsen sitzen oder stehen, dann möchten sie einem fast ein bisschen leid tun. Aber warum auch, es ist ihre herrliche Natur.

Nach der Znünipause haben unsere Khlopzis (= Kerle auf ukr., wird allgemein als Synonym für Männer verwendet) gebannt an den Himmel gestarrt, und ich freute mich schon. Habt Ihr die Störche gesehen? Ja, aber eine besondere Art. Es waren Helikopter, und scheint’s hat jemand beobachtet, wie Fallschirme abgesprungen sind. Die Polizei und die Zivilmiliz sind sehr wachsam wegen Saboteuren. Verdächtige Autos werden sofort kontrolliert. So haben sie auch mich mit meiner Schweizernummer einmal verfolgt und angehalten. Aber da wahrscheinlich wirklich fast jeder hier in der Gegend mal von dieser komischen Schweizerin gehört hat, die vom Paradies Schweiz in die Ukraine gekommen ist, liessen sie mich mich einem Lächeln wieder laufen.

Heute hat Bogdan angefangen zu säen! Das Landwirtschaftsministerium hat die Empfehlung herausgegeben, viel Sommerweizen zu säen, um die Versorgung mit Weizen zu sichern. So hat Ivan den Anbauplan kurzfristig umgestellt und sät, anstelle von Hirse und Hafer, noch 20 ha Sommerweizen. Ich glaub wir sind schön früh dran dieses Jahr.
Hoffen wir, dass nächste Woche der Regen kommt (aber bitte keinen Starkregen, der alles verwüstet, wie vor drei Jahren!!!).
Unser Dinkellastwagen steht noch an der ukrainischen Grenze.

Komisch, aber die Störche, die sonst zuverlässig um den 14. März aus ihren Winterquartieren nach Potutory einfliegen, sind noch nicht gesichtet worden.

Heute Mittwoch ist der erste Lastwagen für die erste Partie Dinkel gekommen, die an die Steinermühle in der Schweiz geliefert wird. Am Nachmittag haben wir mit dem Frontlader die 22 grossen Bigbags geladen. Zwei junge Halbwüchsige aus dem Dorf haben geholfen. Ich habe gestaunt, mit welcher Behendigkeit und Kraft sie auf die Bigbags zum zubinden und auf den Lastwagen zum plombieren gesprungen sind, als ob sie Federn in den Sprunggelenken hätten. Ja, diese strotzende Kraft der Jugend ist doch einfach herrlich. Mit ihrer Hilfe werden sie auch die Herausforderungen der Zukunft bewältigen.

Nebst dem Aufladen gibt es auch ziemlich viel flankierende Bürokratie. Mit Export haben wir dank des Schachtelhalms, von dem wir letztes Jahr bereits 2 Tonnen nach Deutschland geschickt haben, etwas Erfahrung, und wir geben uns wahnsinnig Mühe, alles richtig zu machen. Unser Buchhalter Wolodja ist mit seiner Kaltblütigkeit in diesem Prozedere unersetzlich. Aber trotzdem passiert jedes mal ein kleiner dummer Fehler, der einen dann in die Sätze und in die Debrouille bringt. Diesmal haben wir wirklich alle Dokumente mit drei Augenpaaren kontrolliert und waren guter Hoffnung. Wolodja ist dann am Nachmittag, als er auf den Hof kam, um alles mit den Papieren zu regeln, hinter dem für uns bestimmten Vierzigtönner hergefahren. Er hat sich das Nummernschild des Lastwagens einfach so angeschaut – und dann im Büro, als er das Transportdokument der Logistikfirma einscannte, hat er gestutzt: was ist das denn für eine Nummer? Und tatsächlich, auf dem Dokument war eine andere Nummer als auf dem Lastwagen...Oh Mamma mia, das hätte uns wieder jede Menge Scherereien an der Grenze beschert. Aber Wolodja, der Kaltblütige, der immer ganz bei sich ist, hat es gemerkt. Diesmal war es nicht unser Fehler.

Das Weideputzen mit unseren Gästen, wenn auch nicht mit allen, geht weiter. Auf dem Feld wird die «Feuchtigkeit zugemacht», wie der Agronom Ivan sagt, das heisst man fährt mit einer schweren Zahnegge über die vorbereiteten Felder um die Kapillaren zu schliessen. So bleibt die Feuchtigkeit, die vom Winter noch im Boden ist, dort, wo sie gebraucht wird. Dann wird weiter kultiviert, die Weiden und die Luzerneschläge werden geschleppt. Die zwei neuen Traktoristen machen sich vorläufig nicht schlecht, jedenfalls marschieren sie zügig von A nach B und sind auch bei der Arbeit aktiv. Aber warten wir einen Monat, meint Ivan, und schauen wir, wie sie dann noch marschieren.

Ich würde gerne eine Foto von unseren Gästen beifügen, aber sie lassen sich nicht wirklich gern fotografieren, was ich sehr gut verstehen kann.
Dafür kann ich einen Text von Sasha, der Mütterlichen und Umsichtigen, beifügen. Sie ist die Tochter von der Natalya, die gestern einen Text beigetragen hat (übrigens hab ich den aus dem Russischen übersetzt). Ihr Originaltext auf englisch:

Bericht von Sasha Zhdanova

Englisch
want to describe my feelings. It’s almost a month we’re living here. And luckily we can be here all together,

my family, friends and people from my city.
It was difficult to get used to the work, we could do here at first. But it was a surprise for me, that everyone treats each other very carefully. We are trying to help on the farm and help each other as much as we can.
I still can’t believe at the reality of the war. Probably only because of my mom’s prayers we did not see anything really frightening on our way. When we were in Irpin, they were bombing cities around us. When the bombardment started in Irpin, they started not with our part of the city; when they got closer, it wasn’t our street. But still we were tired and twitchy. We were running to the basement each time air raid alert was announced. There was dusty and icily. It was a moment when the bomb fell really close to us, then I thought we could die in here.

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Bericht von Sasha Zhdanova

Deutsch

Ich möchte meine Gefühle beschreiben. Wir leben jetzt fast einen Monat hier. Und zum Glück können wir hier alle zusammen sein, meine Familie, Freunde und Leute aus meiner Stadt.
Am Anfang war es schwierig, sich an die Arbeit zu gewöhnen, die wir hier machen können. Aber es war eine Überraschung für mich, dass alle sehr rücksichtsvoll miteinander umgehen. Wir versuchen, auf dem Hof zu helfen und uns gegenseitig zu unterstützen, so gut wir können.

Ich kann die Realität des Krieges immer noch nicht fassen. Wahrscheinlich nur dank der Gebete meiner Mutter haben wir auf unserem Weg nichts wirklich Beängstigendes gesehen. Als wir in Irpin waren, haben sie die Städte um uns herum bombardiert. Als die Bombardierung in Irpin begann, betraf sie nicht unseren Stadtteil; als sie näherkamen, war es nicht unsere Straße. Aber wir waren trotzdem müde und unruhig. Jedes Mal, wenn Fliegeralarm gegeben wurde, rannten wir in den Keller. Dort war es staubig und eisig. Es gab einen Moment, da fiel die Bombe ganz nah an uns heran, da dachte ich, wir könnten hier drin sterben.

Übersetzt mit www.DeepL.com/Translator (kostenlose Version)
But we could set to the farm. It seems that our way was guarded by angels. It’s quiet here now. And I don’t want to think about the war at all. But the news keep coming. Today I found out, that the forbidden phosphorus weapons were used in Irpin. And I almost believe we can’t come back.
We were so warmly received in here and I’m really grateful that it’s possible! Thank you so much. We get a lot of help. But I’m afraid when that feeling of travel will pass, I’ll realize I’m want home deadly.
The war is stupid, cruel and ferociously.

Unser Mitarbeiterteam im Friedens-Sommer 2021

von links nach rechts:
Bogdan, Traktorist, Verantwortlicher fürs Getreidelager; Ivan Boyko, Direktor, Agronom u.v.a.; Ivan Olinik, Hirte, Stall; Michailo, Hirte, Stall (ehemalig), Uljana, Leitung Kräuterbetrieb; Anja, Melkerin, die jetzt in Polen auf den Frieden wartet; Ljuba, Kräuterfrau, jetzt ebenfalls in Polen; Ivan, Nachtwächter; Wolodja I., Buchhalter; Igor, Traktorist (ehemalig); Dina, Kräuterfrau, Marketing; Olja, Milchverarbeitung im Sommer; Olja, Haushalt und Köchin; Wolodja II. Hilfsbuchhalter, Sekretär; Ljuba, Sommerkräuterfrau; Oksana Igorevna, Kräuterfrau, Milchverarbeitung, Spezialistin für gute Laune; Mischa, Nachtwächter; Oksana Mykolajevna, Leiterin Kräutergarten; Cristina, u.a. zuständig für Sauberkeit und Ordnung

Die sieben Menschen aus Mikolajev sind nun doch nicht gekommen. Sie haben irgendeine andere Lösung gefunden.
Heute ist unsere ganze Extra-Brigade auf die linke Weide gepilgert, um diese zu «putzen».
Die Weide links ist die Weide für die Kühe des Dorfes. Früher haben da bis zu 50 Kühe geweidet, aber es gibt jedes Jahr weniger Kühe im Dorf, die Kleinbauern geben auf, weil die Jungen in Polen sind, und niemand diese schwere Arbeit mehr machen will. Darum wurde diese Weide immer weniger genutzt und ist am verbuschen, und sowieso haben die Leute die Weide nicht gepflegt. Diesem kleinen Gebüsch rückt nun unsere erweiterte Brigade mit Äxten und guten Handschuhen zu Leibe. Dann will Ivan zuerst den vorderen Streifen vor dem Fluss schleppen, striegeln und übersäen, damit die verbliebenen Kleinbauern des Dorfes für ihre Kühe eine gute Weide haben. Sodann hofft er, dass die Dorfbevölkerung uns den hinteren, grossen Teil der Weide für unsere wachsende Herde überlässt.

Gestern bei der Arbeitsbesprechung habe ich unsern Gästen kurz von uns erzählt, von unserem Riesenprojekt, das wir mit viel Begeisterung und Idealismus, aber mit viel zu wenig Geld angefangen haben, damals vor 16 Jahren. Parallel zur Aufbauarbeit in der Landwirtschaft musste auch die ganze Infrastruktur neu aufgebaut werden, da sämtliche Gebäude, als wir sie übernommen haben, im Prinzip Ruinen waren. Sämtliche Wasser-oder Gas-Leitungen waren gestohlen, sämtliche Fenster, Türen und was sonst nicht niet-und nagelfest war, war von den Dorfbewohnern abgebaut worden. Mit dem Abbau der Mauern hatten sie eben erst begonnen. Es war ja ihre Kolchose, und jeder wollte davon für sich retten, was zu retten war. Sozusagen die erste Aktion unserer Pioniere war das Herauskarren von Bauschutt aus den Gebäuden.

Ohne sehr viele freiwillige Helfer: Schulklassen von Bern, Jugendgruppen und Zivis aus der Schweiz, Schulklassen aus ukrainischen Waldorfschulen, Volontäre, ohne alle diese Menschen hätte man diese Aufbauarbeit nicht leisten können, stünden wir nicht da, wo wir doch immerhin stehen, auch wenn es immer noch unendlich viel zu tun gibt. Und jetzt, in dieser schweren Schicksalsstunde, stehen plötzlich wieder Menschen hier, die vielleicht selber alles verloren haben, aber u n s nun helfen aufzubauen.

Ivan hat einen Freund in Tchernigov, einen Biobauern mit einem dem unsern ähnlichen Betrieb. Auch er und seine Frau kommen immer auf die Biomärkte und präsentieren ein wunderbar reiches Produktesortiment mit Brot, Butter, Käse, Konfitüre, Saucen, Gemüse, Blumen. Sie sind richtige, passionierte Bauern. Auf ihrem Land haust nun die russische Armee, und die betrunkenen Soldaten begehen die Gräuel, die zu einem richtigen Krieg gehören. Aber sie harren weiter aus und versuchen ihr Land zu bearbeiten. Nur seine erwachsenen Kindern mit den Kindeskindern will er in Sicherheit schicken. Die Bauern verlassen ihr Land als letzte.

Bericht von Natalya Zhdanova
Ich schaue aus dem Fenster: ein Zaun, ein Baum mit verdorrten Blättern, die gemusterte Wand des grossen Getreidelagers, auf dem First mit den zerbrochenen «Gänslein» zwei Käuzchen. Irgendwo unter dem Dach ist ihr Nest. Ihr Heim....Heim. Mein Heim ist weit weg, sooo weit weg.
Aus unserem Heim haben uns die Bomben herausgeworfen; Unmengen von Flugzeugen über unsern Köpfen; eine Bombe, die in der Nähe niedergefallen ist. Wir haben in Kleidern, Mänteln und Stiefeln geschlafen, damit wir sofort die Schutzräume aufsuchen konnten. Aus unserem Haus hat uns die Angst um unsere Nächsten und um uns selbst hinausgeworfen.
Heim, solange ich es nicht gesehen habe im Facebook, hoffe ich, dass es steht und die Kämpfe, Brände und Bomben übersteht... Dieses Haus hat mein Vater gebaut, als er aus dem zweiten Weltkrieg heimgekehrt ist. Er hat es aus massiven Rundbalken gebaut. Das Haus ist nicht gross, alt. Ein Haus, das sich an etwas erinnert, an was genau kann ich nicht sagen. Wir werden unbedingt dahin zurückkehren.

 

Prophylaktorium in einem Friedens- Sommer, Zugang zum Ess-Säli, im oberen Stock die grossen Zimmer

Organes Haus

Wenn die neu angekündigten sieben Flüchtlinge den Weg von Lemberg hierher geschafft haben werden, werden 32 Menschen neu auf dem Hof leben. Dann haben wir full house, das heisst, dann sind alle Betten und Zimmer belegt. Wir können einen Minimalwohnstandard bieten: jeder hat sein eigenes Bett, es gibt Dusche und warm Wasser, wenn auch viel zu wenig, und Toiletten gibt es nur aussen, was für unsere älteren Mitbewohnerinnen schon sehr mühselig ist. Das Warmwasser ist limitiert mit je einem 100 l-Boiler im «Prophylaktorium» und im orangen Haus. Vor allem im Prophylaktorium, wo 21 Menschen beherbergt sind, muss man schon sehr zirkeln, wenn man zu seiner einigermassen warmen Dusche kommen will.

Da wir ja in Friedenszeiten oft ganze Schulklassen fürs Landwirtschaftspraktiktum auf dem Hof haben, sind wir für grosse Gruppen eingerichtet; wir haben zwei grosse Zimmer mit Kajütenbetten, wo bis zu zwölf Menschen schlafen können. Jetzt wohnen da bis zu drei Familien. Sie haben es sich so wohnlich wie möglich eingerichtet mit dem wenigen, was wir ihnen zur Verfügung stellen können. Schon mit einem kleinen Tisch als kleines persönliches Zentrum sind sie zufrieden.

Diese grossen Zimmer befinden sich im 1.Stock des Prophylaktoriums, wo sich auch mein Zimmer und eine offene kleine Küche mit einem schönen Tisch befinden. Dieser Tisch ist ein bisschen das Herz des Hauses, wo man sich gerne zu Gesprächen und zum Teetrinken zusammenfindet. Über die kalte Jahreszeit finden sich hier auch unsere Mitarbeiter zum gemeinsamen Znüni und Mittagessen ein.

Jetzt aber sprengt die Mitgliederzahl unserer Hoffamilie eindeutig den Rahmen der Winterküche, und wir sind mit der Verpflegung nach unten ins Parterre gezügelt, wo man in der professionelle Küche (geschenkt von der Kirchgemeinde Horgen, geschmuggelt von Valera und montiert von den Superzivis im Jahre 2018!) gut für viele Menschen kochen kann, und da ist auch das schöne Esssäli mit Klavier, wo man relativ bequem dreissig bis vierzig Menschen verköstigen – und Konzerte geben kann, wenn einem das Herz danach steht.

Dann gibt es eben auch noch das orange Haus, wo sich im zweiten Stock die Schlafzimmer und eine einfache Wohn-Schlaf-Küche befinden.
Das ist also der Minimalstandard, wozu auch noch eine bis jetzt einzelne Waschmaschine gehört! (Die zweite kommt am Montag.)

Wir haben mit unsern besonderen, man muss schon sagen, ausserordentlich unfreiwilligen Gästen (wie gerne würden sie doch nach Hause fahren!) die Vereinbarung getroffen, dass sie quasi als Volontäre hier sind, und dass wir erwarten, dass sie, als Gegenleistung für die Unterbringung, nach ihren Möglichkeiten dort mitarbeiten, wo es nötig ist.

Auch ist besprochen, dass sie in ihren Wohnbereichen nach den Regeln des Hauses selber für Sauberkeit und Ordnung sorgen, und dass die Arbeit rund um Frühstück und Abendessen nicht eigentliche Arbeitszeit ist. Das funktioniert erstaunlich gut und selbstverständlich, erst recht, wenn man bedenkt, dass sie doch bestimmt nicht die allergeringste Lust haben, irgendwelche fremde Regeln zu befolgen. Es sind doch alles gestandene, in ihrer Arbeit und ihrem Leben erfolgreiche Leute, hinter denen jetzt einfach das Nichts ist.

Jeden Tag um 17 Uhr versammeln wir uns zu einer Friedensmeditation, um 19 Uhr zu einer Arbeitsbesprechnung für den nächsten Tag. Am Freitagabend haben unsere Gäste selbst eine spontane und wie sich herausgestellt hat, irgendwie Notfall-Sitzung abgehalten, zu der sie mich dann dazugeholt haben. Dann bekam ich irgendwie einen «Schrei aus tiefster Seele» zu hören. Wobei das auf deutsch definitiv zu stark aufgetragen ist. In der sowieso sehr emotionalen ukrainischen Ausdrucksweise tönt es nicht ganz so dramatisch. Kurz gesagt, die Arbeit sei ihnen beim besten Willen zu schwer, und ob sie wirklich so lange arbeiten müssten, bei ihrer moralischen Verfassung würden sie das nicht schaffen, und sie seien auch an solche Arbeit nicht gewohnt. Ich habe es zwar schriftlich und mündlich kommuniziert, dass wirerwarten,dassjedernach seinen Möglichkeiten sichbeteilige,aberdiePflichtbewussten haben diese Nuance nicht gehört. Zum Glück gibt es auch weniger pflichtbewusste, die vielleicht sowieso nichts machen würden, dadurch ist die ausgleichende Gerechtigkeit wieder hergestellt und mein

schwächliches Kommunizieren hoffentlich etwas ausgeglichen(ist das jetzt logisch oder nicht?). Jedenfalls haben wir das mit dem «nach Möglichkeit» geklärt.

Bis jetzt sind auf dem Schweizerkonto für die Flüchtlingshilfe 20'000 CHF eingegangen. Danke! Um die Menschen zu beherbergen und zu verköstigen brauchen wir im März ca. 6'000 CHF, fast die Hälfte davon für die Heizkosten. Knapp 1'000 CHF mussten wir in Decken, Matratzen und Wekzeug investieren. Sobald nicht mehr geheizt werden muss, reicht das Geld weiter.

Artjom Komar, der 14jährige Junge, der ein Sprachen-Gymnasium besucht und hier die Verantwortung für saubere Duschen innehat und auch sonst durch seine Hilfsbereitschaft auffällt, hat von seiner Seite aus für Euch einen Bericht beigetragen, den ich unübersetzt beifüge:

English

«This letter is for our friends from Switzerland. I have an average level of English writing, so if there are mistakes, don’t judge strictly.
Due to the current situation in the country, we had to leave our homes. This is very sad, because some people and things dear to us are still in our home cities, where is the war now.

There are a lot of familiar people here, people from my own or neighboring cities of Ukraine. There are many relatives here, so I feel at ease. We are united by one misfortune, therefore we are a team whose main task is to survive by helping each other. Now things are getting better and we are already getting used to what is happening. Works helps to stop thinking about the bad.
Hope for the best!”

Deutsch

"Dieser Brief ist für unsere Freunde aus der Schweiz. Ich habe ein durchschnittliches Englischniveau, also wenn es Fehler gibt, urteilen Sie nicht streng.
Aufgrund der aktuellen Situation in unserem Land mussten wir unsere Heimat verlassen. Das ist sehr traurig, denn einige Menschen und Dinge, die uns lieb und teuer sind, befinden sich noch in unseren Heimatstädten, wo gerade Krieg ist.

Hier gibt es viele vertraute Menschen, Menschen aus meiner eigenen Stadt oder aus benachbarten Städten der Ukraine. Es gibt hier viele Verwandte, deshalb fühle ich mich wohl. Uns eint das gleiche Unglück, deshalb sind wir ein Team, dessen Hauptaufgabe darin besteht, zu überleben, indem wir uns gegenseitig helfen. Jetzt wird es besser, und wir haben uns bereits an die neuen Gegebenheiten gewöhnt. Arbeiten hilft, um nicht mehr an das Schlechte zu denken.

Hoffen wir auf das Beste!"

Von der Exportfront noch keine Neuigkeiten.

Ivan und ich sollten zwar grad jetzt dringend die Skype Konferenz mit unserem Vorstand heute nachmittag vorbereiten, aber das Telefon hat geläutet, und Ivan wurde zu einer dringlichen Sitzung ins Parlament abberufen (neben allem anderen ist Ivan auch noch Abgeordneter im Gebietsparlament). So kann ich ein bisschen am Tagesrapport schreiben.

Heute beim Znüni hat sich herausgestellt, dass das doch nicht ganz stimmt mit der Aufgeräumtheit unserer Mitarbeiter. Unsere Oksana Mykolajevna (Leiterin Garten) hat geseufzt, sie habe wieder kein Auge zugetan die Nacht. Alles gehe gut bis drei Uhr am Nachmittag, solange könne sie das schöne Wetter sehen, freue sich des Lebens und der Arbeit, aber sobald es gegen Abend gehe, steige die Panik hoch. Dann höre sie wieder die Flugzeuge kreisen, welche zwar unsere seien, aber dennoch. Und Oksana Igorjevna, ihre Busenfreundin, Chefin der Milchverarbeitung, Spezialistin für gute Laune, erzählen und lachen, hat ihr heftig beigepflichtet. Ja, und in Berezhany heulten die ganze Nacht die Sirenen. Ihren Grossvater, der dort wohnt, hätten sie in der ersten Nacht in den Notfall bringen müssen, weil er einen «Herzsturm», wie man hier sagt, bekommen habe. Jetzt sei er bei ihnen in Possukhiv, was soll man machen! Ihre Männer sind nachts als Wächter unterwegs, das ganze Dorf schaue und beobachte, was sich so tut, und sie telefonierten die ganze Nacht hin und her. Sie haben Angst, dass auch das Städtchen Berezhany getroffen wird, wo es ja auch einen Armeestandpunkt gibt. Wenn da auch nur kaputtes Zeug gelagert würde, was helfe das, das wisse Putin doch nicht, er habe nur die Pläne. Ich komme mir sehr komisch vor, dass ich einfach keine Angst um mich habe. Aber Oksana M.sagt auch, sie habe schon keine Angst mehr um sich, aber um all die Kinder, die jetzt ohne Eltern seien, und deren sich niemand annehme.

Dann haben sie noch erzählt, dass unsere Anja II.aus Polen angerufen und Bilder ihrer Kinder, die im polnischen Kindergarten sind, geschickt habe. Aber Anja II.habe nicht den Flüchtlingsstatus, sonst könnte sie drei Jahre lang nicht mehr zurück in die Ukraine kommen. Das habe ich entweder nicht richtig verstanden, oder sie. Wahrscheinlich ist es so, dass Flüchtlinge nach Kriegsende drei Jahre lang nicht nach Polen zur Arbeit fahren dürften. Aber auch das ist irgendwie unverständlich.

In Friedenszeiten sind unsere zwei Oksanas einfach zwei Originale, aber tüchtige. Dass sie einander wahnsinnig viel zu erzählen haben, ist glaub schon klar geworden. Das hat dazu geführt, dass ich versuche, wenn immer möglich, sie davon abzuhalten, miteinander zu arbeiten. Sonst sieht man fast immer mindestens eine von ihnen stehen und lebhaft gestikulieren. Sie sind aber so geartet, dass man, meistens mindstens, mit Humor intervenieren kann.

Gestern abend hatte ich noch ein Gespräch mit Olja aus Irpin, der Mutter von Artem, der mit Erfolg die Oberaufsicht über die Duschen innehat. Sie habe viele Verwandte in Russland, weil der eine Teil der Familie während des Holodomors (der grossen Hungersnot in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts) ins heutige Russland habe fliehen können. Ihre eigene Familie sei in Kiev geblieben, aber sie hätten immer einen herzlichen Kontakt miteinander gehalten. Diese Verwandten würden ihren Erzählungen über den jetzigen Krieg absolut keinen Glauben schenken. Und das erzählen ausnahmslos alle, die Verwandte in Russland haben, und deren gibt es viele.

Juhu! Wir haben die Lizenz für die Ausfuhr von Dinkel bekommen! Jetzt hoffen wir, bald einen Transport zu finden. Im Prinzip sind wir bereit, waren schon zweimal bereit. Auch der Broker am Zoll ist im Prinzip bereit. Für die letzten Details warten wir aber bis ziemlich zuletzt. Wolodja meint, das sei jetzt so eine Zeit, wo man nicht länger im Voraus plane als einen Tag. Und Ivan steuert noch seine Anekdote bei: Kurz nach der Wende, als grosse Krise war in der Ukraine, hat der Leiter der damals noch existierenden Kolchose lakonisch gemeint: bei uns war doch schon immer Krise, sie haben es uns bloss nicht erzählt. Krise ist doch für uns kein Problem.

Unsere eigenen Mitarbeiter sind erstaunlich aufgeräumt, fröhlich und irgendwie motiviert, und marschieren ziemlich zügig zur Arbeit, dann von der Arbeit zum Znüni und wieder zurück, was sich dann beim gemeinsamen Mittagessen wiederholt. Sie sind eigentlich auch ziemlich stolz, dass sie noch hier sind. Die Patrioten seien noch hier, meinen sie, und sie schauen fast ein bisschen despektierlich auf die, die über die Grenze geflohen sind. Gestern abend hat Ljuba aus Polen angerufen, die jüngste der Kräuterfrauen. Sie hat ein bisschen Heimweh, und es ist ihr ziemlich langweilig. Kommentar unserer Leute: in Potutory hat es jetzt so viele fremde Kinder, die mit ihren Eltern aus dem Osten zu uns geflohen sind - und unsere Kinder sind weg.

Heute haben sich noch zwei neue Mitarbeiter eingefunden. Wir hoffen, dass sie sich dann wirklich als die Traktoristen entpuppen, als die sie sich eingeführt haben.

Die Männer aus Irpin sind immer noch am Abarbeiten des grossen Haufens herangekarrten Brennholzes. Die Schiterbiigi (wie sagt man das auf hochdeutsch?) wächst, aber vielleicht doch ein bisschen langsam(?), die Motorsäge ging schon zweimal kaputt, aber es ist auch möglich, dass sie ein bisschen altersschwach ist. Der Kommentar von Ivan lautete, es gebe einen Spruch: ich arbeite so, wie Du mir Lohn gibst. Die Stimmung unter den Männern ist jedoch aufgeräumt, vielleicht sogar ein bisschen verzweifelt fröhlich. Einer von ihnen meinte humorvoll: ehrlich, Pani Cristina, wir würden diese Arbeit hundert mal lieber nicht machen und Euch einen Lastwagen fertiges Brennholz organisieren – wenn wir nur nach Hause könnten. Ja, das ist der bittere Kern Wahrheit in diesem Witz. Wie wünsche ich Ihnen, dass sie bald, bald nach Hause können. Aber ich wünsche halt trotzdem auch, dass bis dahin die Schiterbiigi ein bisschen wächst.

Unser Verein und Elisabeth Rüegg haben ja einen Spendenaufruf für unsere «Flüchtlinge» lanciert. Wenn jetzt wirklich sehr viel Geld zusammenkommt, sodass wir alle unsere zusätzlichen Kosten decken können, dann sollen unsere Gäste für ihre Arbeit auch etwas bekommen. Nach welchem System wir das am besten machen, darüber sind wir noch am nachdenken, es gibt da natürlich auch sensible Punkte. Heute findet eine Skype-Konferenz mit unserem Vorstand vom Verein Schiwa Semlja Schweiz (dem Besitzer unseres Betriebes) statt. Da sollten wir etwas hören über den Stand der Spendeneingänge.

Ich habe mir wegen Sasha, der jungen Frau aus Irpin, von der ich schon mal kurz erzählt habe, dass sie so sorgsam und sozial sei, Gedanken gemacht. Jetzt sind ja plötzlich die Grenzen offen, und die Ukrainerinnen überall willkommen, und in der Schweiz dürfen sie sogar arbeiten. Wäre das nicht eine Gelegenheit, etwas neues zu sehen und zu lernen - ohne dass man grad einen Schweizer heiraten muss. ? Sie würde gerne mit Kindern arbeiten, aber das denke ich, ist ohne Sprache schwierig. Sasha spricht ausser Russisch und Ukrainisch etwas englisch. Um einen eventuellen Hinweis bezüglich Arbeitsmöglichkeiten, vielleicht auch noch für andere Ukrainerinnen, bin ich Euch dankbar.

Es gäbe noch viel zu erzählen, aber: «es gibt nicht wann», wie man hier sagt.

Heute war ein wunderschöner, warmer Vorfrühlingstag. Das Mosaik unserer Felder in Dunkelbraun und Fahlgelb liegt im Sonnenschein, und es ist, als ob die Felder sich dem Licht entgegenwölbten, bereit für die Macht des Frühlings, die aus dem Kosmos kommt. Die Kälberweide ist fast fertig geputzt, die Grasbüschel fangen sich schon grün zu regen an. Und am Morgen stand die Venus, der Stern der Liebe, machtvoll und hoch über dem Osthorizont. Das Leben und die Liebe lassen sich nicht unterkriegen.

Wir sind jetzt mit dem Haushalt nach unten in die grosse Küche und das Speisesäli gezügelt. Oleg, unser professioneller Koch aus der Reihe unserer Mitbewohner auf Zeit, waltet da unten seines Amtes. Ich bin entzückt, dass er noch anspruchsvoller punkto Sauberkeit und System ist als ich. Unsere Hausfrau Olja versteht sich bestens mit ihm und ist auch entzückt, wie gut es mit ihm geht, und dass sie von ihm etwas lernen kann. Er gleicht ein bisschen einem unserer sympathischen, heimlichen Käuzchen, die auf unsern Schieferdächern herumhuschen, schnell, leise und ohne viel Tamtam.
Die Käuzchen sind ein beliebtes Beobachtungsobjekt unserer Gäste, wie sie manchmal schon am Tag die längste Zeit auf dem First des ihrem Zimmer gegenüberliegenden Getreidelagers kauern – und, husch, in einer Öffnung verschwunden sind. Jetzt wissen wir, wo sie wahrscheinlich ihr Nest haben. Ein Kind hat auch ein nettes Bild von ihnen gemalt.

Unsere auf Zeit zugezogenen Männer mussten heute auf die Militärdiensstelle, um sich da zu melden. Sonst könnten sie der Desertierung angeklagt werden.
Das neuzugezogene Ehepaar kam zu einer kurzen Besprechung ins Office. Ob Sie noch einen Wunsch hätten, fragte ich. Er wolle einfach nach Hause, nichts anderes, brach aus dem Mann heraus, in seine Autogarage, es gebe so wahnsinnig viel zu tun.

Nach der täglichen Friedensmeditation, in der Natascha auch darum gebetet hat, dass die russischen Soldaten die Waffen niederlegen, haben sich unsere Gäste noch kurz über den Stand der Dinge ausgetauscht. Kiev wird noch gehalten, sei aber schon fast ganz eingekreist, sagen sie, und sie scheinen bedrückt. Ich wende mich jeweils still an den Engel von Putin, laut wage ich es nicht.

Ich glaube, dass es gut ist, dass soviele hier sind. Es stört sie überhaupt nicht, dass sie zu zehnt oder gar zu elf in einem Zimmer sind, sie wollen nahe beieinander sein, und sie reden viel.

Heute ist wunderschönes Wetter, aber der Boden ist noch gefroren. In der Nacht wird es wahrscheinlich noch die ganze Woche ziemlich starken Frost geben.

Es ist erschütternd, wie unsere Flüchtlinge tapfer sind. Trotz dieser ganzen inneren Verzweiflung, in der sie sich doch befinden müssen. Die meisten arbeiten so gut sie können. Die Stimmung unter ihnen ist freundlich, humorvoll, hilfsbereit. Sie halten Ordnung und bemühen sich, unsere Regeln zu respektieren. Artem, der vierzehnjährige Junge aus Irpin, hat von sich aus die Verantwortung für die Dusche übernommen und, tatsächlich, der Boden ist immer sauber und trocken,die Duschabflüsse sind gereinigt usw. Wobei es natürlich, wie überall, auch einzelne gibt, die sich für sich selbst mehr Freiraum herausnehmen. Die Grosszügigkeit, mit der die andern das mittragen, ist erstaunlich. Ich weiss von mir, dass ich diese Grosszügigkeit wahrscheinlich nicht aufbringen würde (siehe Ichlein).

Gegen Abend hat uns unser Buchhalter Wolodja den fertiggestellten Jahresabschluss 2021 präsentiert. Er hat sich noch halb entschuldigt, dass es länger gedauert hat. Er habe nur abends und nachts daran arbeiten können, immer wieder sei die Sirene losgegangen, und die ganze Familie musste in den Schutzkeller dislozieren. Bis er dann wieder im Thema gewesen sei, habe es halt immer wieder gedauert. Ich fragte, wahrscheinlich ein bisschen dumm, ob sie denn immer in den Schutzkeller gingen (ich würde wahrscheinlich nicht gehen). Er: es ist auch, damit de Kinder lernen, sich an Regeln zu halten. Jemand sorgt sich doch für uns und will, dass wir geschützt sind. Die Kinder sollen lernen, dass man das respektieren soll.

Ich glaube nicht, dass Berezhany wirklich gefährdet ist. Es gibt einfach in allen grösseren Ortschaften Alarm, zur Sicherheit, wenn irgendein Objekt am Himmel in relativer Nähe gesichtet wird. Der Armeestützpunkt in Berezhany ist nur ein Lager mit Ersatzteilen usw., es gibt also keine Waffen hier. Aber früher gab es die, und wir wissen natürlich nicht, wie neu die Lagepläne der Russen sind.

Schon bei Dunkelheit sind die neuen Gäste aus Irpin mit dem eigenen Auto angekommen. Vater, Mutter, ein 11jähriges Mädchen und eine kleine Katze, die sie einfach nicht übers Herz brachten, auszusetzen wie den Hund. Ihr Haus war schon kaputt, als sie losfuhren. Und sie standen bei uns im Office, gefasst, konzentriert, als ob sie einfach unerwartete Gäste wären und erzählten ruhig, informativ die Ungeheuerlichkeiten.

Samstag, 12. + Sonntag, 13. März

Heute soll es wärmer werden. Und noch immr geht die Zerstörung weiter.

Ich versuche heute, meine Gedanken zu ordnen. Angeregt dazu hat mich unter anderem ein Interview mit Daniele Ganser über den Krieg in der Ukraine (zu finden in youtube), ein Artikel im Multipolar-Magazin (den link dazu im mail selbst), Gedanken, die Ihr so freundlich waret, mir mitzuteilen, Texte von Rudolf Steiner (siehe auch unten hineinkopiert). Bitte nehmt meinen Text als das, was er ist: ein Versuch, meine Gedanken zu ordnen. Danke, dass Ihr mir dabei helft.

Der Hauptprofiteur dieses Krieges ist die Waffenindustrie und Amerika.
«Die USA» hatte schon lange die Absicht, die Ukraine in ihren Einfussbereich zu ziehen. Auf dem Natogipfel 2008 in Bukarest hat Bush,der Jüngere, seinem Willen Ausdruck gegeben, die Ukraine und Georgien in die Nato zu ziehen. Das war im Prinzip die erste Stufe der Eskalation. Ganz zu schweigen davon, dass die Nato ihr Versprechen an Russland nach dem Fall der Mauer, ihren Einflussbereich nicht auszudehmen, x mal gebrochen hat.

Ebenso hat die USA aktiv mitgewirkt an der Maidanrevolution 2014. Deren Resultat kann man auch als Staatsstreich bezeichnen. Der im Prinzip demokratisch gewählte Janukovitch wurde entmachtet, er floh, und durch eine nicht verfassungskonformen Abstimmung, mit offensichtlicher Stimmenfälschung wurde Janzenjuk eingesetzt. Logisch wäre es gewesen, Klichko einzusetzen, denn er war der Führer des Maidan. Aber aus einem abgehörten, geheimen Telefongespräch von Victoria Newland, der amerikanischen Delegierten während des Maidan, geht hervor, dass Amerika Janzenjuk portiert haben wollte. Die Regierung, die er dann um sich bildete, war für einen Nato-Beitritt. Auch sind die Vorgänge rund um das Massaker, das am Schluss der Maidanrevolution und vor dem Putsch stattgefunden, und dann zum Umsturz geführt hat, nie von unabhängiger Seite aufgeklärt worden. Vieles spricht dafür, dass Ultranationalisten und Teile der Demonstranten sich an diesem Massaker beteiligt haben, und dass mindestens nicht nur die Polizei von Janukovich der Akteur war.

Hier bei uns im Westen der Ukraine war die Unterstützung für den Maidan sehr gross, man wollte mehr Freiheit und weniger Korruption. Und ich glaube, dass es ihnen wirklich um die «Würde»des Menschen ging. Dass es mit einer Verteufelung des «Russischen» einherging konnte ich nie nachvollziehen. Aber es gab auch viele Ukrainer, die durchaus russlandfreundlich waren und sind, und die Russland nicht nur als Feind wahrnehmen, sondern als Bruder. Damit ist ja nicht unbedingt Putin gemeint, sondern das ganze russische Wesen, das auch in seiner Kultur zum Ausdruck kommt. Mit einem von ihnen konnte ich ja auch reden, als er bei uns übernachtet hatte. Seine dezidierte Meinung ist, dass Ukrainer, Russen und Weissrussen eine Familie sind. Und auch, dass die Greueltaten, die man hierzulande den «Russen» zuschreibt, z.B.den Holodomor oder die Judenverfolgungen, genauso von ukrainischen Kommunisten und von Teilen der Bevölkerung begangen worden seien. Auch sei die ukrainische Kultur während der Sowjetunion nicht wirklich unterdrückt worden. Dass es also nicht gerechtfertigt sei, Russland durchwegs und einseitig als «böse» wahrzunehmen.

Man kann sich des Eindruckes nicht erwehren, dass ein Keil in etwas getrieben werden soll, was zusammengehört, und was als Ganzes eine Kulturaufgabe haben könnte. Aber dazu lässt «man» es nicht kommen. Die Frage ist natürlich, wer ist dieses «man», sicher ist es auch, aber nicht nur, Putin.

Etwas anderes, was auffällt, ist, dass ein feindlicher Antagonismus konstruiert wird zwischen West und Ost. «Amerika», bzw.die herrschenden Mächte dort mit ihrem Weltherrschaftsanspruch, sind in dieser Hinsicht die treibende Kraft. Und es läuft in den Leitmedien des Westens darauf heraus, dass der Westen gut ist und der Osten, bzw.Russland böse.

Was spielt denn da Mitteleuropa für eine Rolle? Rudolf Steiner hat ja vieles geforscht über die Aufgaben und die Mission der verschiedenen Völker, und er wies immer eindringlich auf die Kulturaufgabe Deutschlands hin, als Mitte, als Ort, wo die Ich-Kultur (nicht de Egoismus), eine Kultur der Menschlichkeit, des Verständnisses geübt wird. Das ganze furchtbare Unglück der beiden Weltkriege konnte sich doch nur

darum ereignen, weil Deutschland genau das total verleugnet hat, oder weil die Mächte, die das unterdrücken wollten, mächtiger waren. Und dann hat der Nationalismus weltweit seinen zerstörenden Siegeszug angetreten. Steiner hat damals auch gesagt, wenn von Mitteleuropa aus wirklich eine solche Kultur ausgestrahlt wäre, es für Russland möglich gewesen wäre, nicht dem sozialistischen Experiment zu verfallen. Auch Russland und Mitteleuropa gehören zusammen. Sich damit zu beschäftigen, in welchem Sinne sie zusammengehören, ist unendlich begeisternd.
Zur Kultur von Mitteleuropa gehört, so wie ich es verstehe, auch der von Rudolf Steiner initiierte Impuls der «Dreigliederung des sozialen Organismus». Er versuchte ja nach der Katastrophe des ersten Weltkrieges, diesem Impuls an höchster Stelle zum Durchbruch zu verhelfen. Wie man weiss, ist es nicht gelungen. Aber nach wie vor ist dieses Konzept begeisternd. Wie schön könnte die Welt sein, wenn wir unser Zusammenleben in dieser Richtung gestalten würden. Aber es ist Gott sei Dank ein Konzept, das man nicht einfach einführen kann, wenn möglich noch mit Gewalt. Es muss sich aus dem Verständnis der Menschen ergeben. Meiner Meinung gibt es schon vieles, was in diese Richtung wirkt: zuerst natürlich die bio-dynamische Landwirtschaft, aus der sich wie selbstverständlich ein Verständnis für eine brüderliche Wirtschaft ergibt, wie z.B.die solidarischen Kundenkreise um verschiedene biodynamische Höfe zeigen (wie heisst nur schon wieder dieses System?). Dann die freien Schulen und Bildungsinstitute, Fair Trade, Amesty International und und und.
Lassen wir uns doch nicht unterkriegen von der Propaganda, dass die Mächtigen über alles entscheiden.

Aber wie auch immer, dieser Krieg kann durch nichts gerechtfertigt werden. Und er muss gestopt werden!

Rudolf Steiner schrieb das während der ersten Weltkrieg in einem Notizbuch. Vermutlich Dezember 1917 – Abgedruckt in GA 173c ‚Zeitgeschichtliche Betrachtungen‘ Band III

Was steht sich in diesem Kriege gegenüber und um was wird er geführt?

Tonangebend ist eine Gruppe von Menschen, welche die Erde beherrschen wollen mit den Mitteln der beweglichen kapitalistischen Wirtschaftsimpulse. Zu ihnen gehören alle diejenigen Menschenkreise, welche diese Gruppe imstande ist, durch Wirtschaftsmittel zu binden und zu organisieren. Das Wesentliche ist, daß diese Gruppe weiß, in dem Bereich des russischen Territoriums liegt eine im Sinne der Zukunft unorganisierte Menschenansammlung, die den Keim einer sozialistischen Organisation in sich trägt. Diesen sozialistischen Keimimpuls unter den Machtbereich der antisozialen Gruppe zu bringen, ist das wohlberechnete Ziel. Dieses Ziel kann nicht erreicht werden, wenn von Mitteleuropa mit Verständnis eine Vereinigung gesucht wird mit dem östlichen Keimimpuls. Nur weil jene Gruppe innerhalb der angloamerikanischen Welt zu finden ist, ist als untergeordnetes Moment die jetzige Mächtekonstellation entstanden, welche alle wirklichen Gegensätze und Interessen verdeckt. Sie verdeckt vor allem die wahre Tatsache, daß um den russischen Kulturkeim zwischen den angloamerikanischen Plutokraten und dem mitteleuropäischen Volke gekämpft wird. In dem Augenblicke, in dem von Mitteleuropa diese Tatsache der Welt enthüllt wird, wird eine unwahre Konstellation durch eine wahre ersetzt. Der Krieg wird deshalb solange in irgendeiner Form dauern, bis Deutschtum und Slawentum sich zu dem gemeinsamen Ziel der Menschenbefreiung vom Joche des Westens zusammengefunden haben.

Es gibt nur die Alternative: Entweder man entlarvt die Lügen, mit der der Westen arbeiten muß, wenn er reüssieren will, man sagt: Die Macher der angloamerikanischen Sache sind die Träger einer Strömung, die ihre Wurzeln in den Impulsen hat, die vor der Französischen Revolution liegen und in der Realisierung einer Weltherrschaft mit Kapitalistenmitteln besteht, die sich nur der Revolutionsimpulse als Phrase bedient, um sich dahinter zu verstecken - , oder man tritt an eine okkulte Gruppe innerhalb der angloamerikanischen Welt die Weltherrschaft ab, bis aus dem geknechteten deutschslawischen Gebiet durch zukünftige Ströme von Blut das wahre geistige Ziel der Erde gerettet wird.

Unser Arbeitstag beginnt um 8 Uhr mit einer Arbeitsbesprechung, wo sich alle Mitarbeitenden einfinden, und wo Ivan oder ich (meistens Ivan) etwas allgemeines zu bedenken gibt, und wo man die Arbeit organisiert. Unser Bauarbeiter Jaroslav kam ein bisschen früher, um nochmals das Set mit den Einsätzen zum Aku-Schrauber zu suchen, welches sich gestern abend, auf meine Nachfrage hin, als verschwunden erwies und unauffindbar blieb. Unterdessen hat es sich herumgesprochen, dass, was «verschwindet», bezahlt werden muss. Es war aber auch heute Morgen unauffindbar. Dann hat Ivan geschaut und es gefunden. Das ist eine kleine Kostprobe unseres täglichen Wettkampfes um Ordnung und Verantwortlichkeit.

Am Morgen kamen nochmals zwei Menschen an, die aus Irpin fliehen konnten: der Mann von Olja und die Mutter unserer Ira. Wieder zwei Familien, deren Herz nun leichter ist.

Drei Männer aus Irpin marschierten wohlgemut in den Wald, um Brennholz zu schlagen und kamen am Abend mitsamt einem halben Anhänger Holz wohlgemut zurück. Ivan regte sich ein bisschen auf, dass das Resultat von zwei Tagen und einer halben Flasche Maschinenöl plus ziemlich viel Benzin ein bisschen mickrig ist. Er hat natürlich recht wie immer (ein Standardsatz zwischen Ivan und mir, nur dass der Akteur wechselt, je nachdem, wer ihn sagt).

Es war den ganzen Tag so kalt und windig und unfreundlich, dass unsere Weide-Aufräum-Kolonne nicht ausgerückt ist. Auch mussten die neuen Mitglieder unserer Gemeinschaft, die aus Irpin gekommen sind, zuerst innerlich und äusserlich gewärmt werden.

Um fünf Uhr am Nachmittag haben alle unsere besonderen Gäste, es sind jetzt schon neunzehn, einen Kreis gemacht und gebetet, wie wahrscheinlich sehr viele überall in der Ukraine. Denn von heute an sind alle, die wollen, täglich zu dieser Zeit eingeladen zu einer Meditation für den Frieden. Lasst uns an die Kraft unserer Gedanken glauben!

Am Abend hab ich nochmals in die Runde gefragt: meint Ihr nicht, es sei besser zu kapitulieren? Die Antwort war nein, Putin sei schon zu weit gegangen, er habe zuviel zerstört. Ich selber kann es mir nicht mehr vorstellen, wie das gehen soll, wie die Russen oder auch eine prorussische Marionettenregierung sich konkret des Landes und der Menschen bemächtigen wollten, die jetzt so einen Hass haben auf Russland. Sie könnten nur durch ein Gewaltregime gebändigt werden. Und es würde auf einen jahrelangen Partisanenkampf herauslaufen. Gott, erbarme Dich unser.

Von Cherson, der ersten gefallenen Stadt, hört man, wie die Einwohner sich gewaltlos gegen die Beatzung wehren, immer noch.

Unter den Kindern unserer Gäste ist auch Stepan, ein junger Mensch mit einem Down-Syndrom. Er ist sehr gut erzogen, gliedert sich ruhig und unauffällig in die Gemeinschaft ein und fällt vor allem dadurch auf, dass er immer wieder jemanden umarmen muss. Und alle lassen sich gerne von ihm umarmen. Gestern hat er zu Ira gesagt: «Du bist so schön». Ich glaube, so ein Mensch kann niemanden hassen oder verachten oder schlecht über ihn denken. Am Morgen ist er immer der erste, der aufsteht. Heute früh stand er in der Küche und schaute zum Fenster hinaus nach Westen. Über dem Hügelzug leuchteten die darüber gelagerten Wolken in der aufgehenden Sonne, über den Wolken der himmelblaue Himmel, Licht fiel auf die braunen Hügel, eine wunderschöne Stimmung. Und Stepan sagte nur: schau, wie schön. Und sein Gesicht leuchtete selbst wie eine kleine Sonne.«Das will ich malen!» Stepan malt auch wirklich gut; es gab bereits eine Ausstellung mit seinen expressiven, berührenden Bildern in Kiev – vor dem allem.

Vielleicht können wir doch mindestens die 38 t Dinkel exportieren. Ivan telefoniert von Pontuis zu Pilatus, denn es braucht dazu eine Lizenz und viele Dokumente, und bis zum Abend wurden die Regeln schon zweimal gewechselt. Unser Wunderbuchhalter Wolodja ist die Ruhe und Sicherheit selbst und versucht, das Unmögliche möglich zu machen. Drückt uns die Daumen!

Wolodja ist vor acht Jahren zu uns gekommen, als in der Buchhaltung ein absoluter Notstand herrschte. Der vorherige Buchhalter hatte sich das Leben genommen.
Zwei Jahre lang hatte er nichts mehr richtig verbucht, es fehlten Belege, das absolute Chaos. (Wir haben nichts gemerkt, weil er uns jeden Monat einen unserer Meinung nach sauberen Monatsabschluss vorgelegt hatte.) Da fanden wir Wolodja - dank seiner Frau. Seine Frau ist nämlich zu Ivans Frau in die Schule gegangen und hat sie sehr geliebt. Darum hat sie dem Wolodja den Ivan sozusagen empfohlen. Alles klar? Das sind die ukrainischen Freundschaften.

Was aber ein wirklich sauberer Monatsabschluss ist, wissen wir erst seit wir Wolodja haben.

Heute sind nochmals vier Gäste gekommen, die aus Irpin geflüchtet sind. All diese Menschen mussten ihr Zuhause hinter sich lassen, sie wissen nicht, ob ihre Häuser noch stehen, was mit ihren ihnen kostbaren Dingen passiert. Mit einer Tasche und vielleicht wenig, vielleicht ein bisschen mehr Geld konnten sie nur noch ihr Leben retten und wissen nicht, wann sie wieder nach Hause können. Es drückt einem einfach das Herz ab. Und sie sind so tapfer, so stark.

Auf meinen gestrigen Bericht hat meine Freundin Angelika folgendes geschrieben:

„Dennoch möchte ich nicht glauben, dass Michael in unserer Zeit in den Kampf mit Menschen- Waffen zieht. Sein Kampf findet nicht auf einem kriegerischen Schlachtfeld der Menschen statt. Da denke ich zum Beispiel daran was wir vor einiger Zeit im 3. Vortrag der Sendung Michaels gelesen haben. Der Mensch ist unsichtbar (d.h.ein geistiges Wesen, CL). Alle Menschen sind unsichtbar...egal welcher Nationalität. Und: alles was aus einem alten Bewusstsein kommt (zum Beispiel der Nationalismus) kann die heutigen Forderungen nicht lösen. „Seit Ende des vorigen Jahrhunderts ist er, Michael, daran, wenn wir ihm entgegen gehen, das Verständnis für den Christusimpuls im wahren Sinne des Wortes zu vermitteln. Aber wir müssen ihm entgegengehen.“(Rudolf Steiner) Das ist nun herausgelöst aus dem Text, aber ich denke (es ist für mich zumindest unrückbar), dass der Christusimpuls und damit Michaels Impuls nicht mit Kriegshandlungen, so wie sie die Menschen jetzt veranstalten, vereinbar ist.“

Danke, Angelika. Ich versuche heute weiter darüber nachzudenken. Habe unterdessen den 1. Vortrag von Rudolf Steiner aus GA 157 gelesen.

Wie man aus meinen Berichten herauslesen kann, fühle ich mich ziemlich hilflos: Wie soll ich über diesen Krieg denken? Was für Mächte stehen dahinter? Was steht geisteswissenschaftlich dahinter? Ist es vielleicht tatsächlich ein Kampf, der gekämpft werden muss? Ist es ein Kampf gegen eine so hoffnungslos rückgewandte, verkrustete, menschenfeindliche Macht, die nur mit ihrer eigenen Logik bekämpft werden kann? Muss man auch

heute tatsächlich noch zum Schwert greifen? Der Erzengel Michael ist ist ja die Schutzmacht der Ukraine.Es ist so erstaunlich, wie sicher die Ukrainer sind. Und eigentlich sind sie ein friedfertiges Volk. Aber jetzt müssen sie kämpfen, das empfinden sie in tiefster Seele. Sie kämpfen ja auch nicht für sich, nicht um selber mächtig zu sein, sondern um etwas, was sie dunkel ahnen, um die Würde des Menschen. Die zweite gewaltlose Revolution, die am 21.November 2014 begann, heisst "Revolution der Würde". Seither wird in der Ukraine der "Tag der Würde und der Freiheit" begangen, auch im Gedenken an die zweite gewaltlose Revolution,die Orange, die interessanterweise fast am gleichen Datum begann, am 22. November 2004.

Im ukrainischen Fernsehen wird berichtet, dass in den besetzten Städten die Menschen auf die Strassen kommen und die Soldaten bitten, nach Hause zu gehen.

Die russische Invasion kommt ja nicht voran, es gibt Versorgungsprobleme, die Soldaten sind nicht motiviert. Putin bleibt nur die anonyme Gewalt , die Bomben, gar die Streubomben. Ich möchte nicht sagen, die kommen aus dem Himmel oder von oben, denn von daher kommt eine ganz andere Gewalt, die wir um Hilfe bitten können und müssen.

Diese Gewalt kann vielleicht eingreifen, wenn verhandelt wird. Im zweiten Anhang sende ich zu diesem Thema ein Interview mit dem deutschen Spitzendiplomaten Wolfgang Ischinger.

Gerne möchte hier ich hier Gisela und Eva Heep zu Wort kommen lassen:
„Wir denken an Sie und die ganze Ukraine, an Ihre Eltern - und auch an die vielen Russen, denen es vermutlich auch nicht gut geht ...und versuchen ,gute Gedanken auch in die geistige Welt zu senden.

In GA 157,Ende 2.Vortrag zu Beginn des 1.Weltkriegs sind sehr bewegende Worte Steiners zu den"Verhältnissen" in der geistigen Welt damals zu lesen, zusammengefasst in dem Mantram (falls Sie es nicht sowieso im Sinn haben):“ Aus dem Mut der Kämpfer,
Aus dem Blut der Schlachten,

Aus dem Leid Verlassener,
Aus des Volkes Opfertaten Wird erwachsen Geistesfrucht - Lenken Seelen geistbewusst Ihren Sinn ins Geisterreich. Rudolf Steiner

Heute ist Gott sei Dank auch der Mann von Natascha aus dem unterdessen arg zerstörten Irpin, zusammen mit einem verwandten Ehepaar, bei uns auf dem Hof angekommen.

Die Solidarität unter den Ukrainern ist gross und selbsverständlich (meistens mindstens, wahrscheinlich). Die Neuangekommenen sind zu Fuss aus Irpin geflohen, über Schleichwege. Überall waren ukrainische Soldaten, die ihnen gezeigt haben, wo es lang geht. Dann warteten Busse, die die Flüchtlinge an den Bahnhof Kiev gefahren haben. Dort gibt es schon keine Anzeigetafeln mehr. Man muss selber herausfinden, wo der eigene Zug fährt. Aber überall stehen Volontäre, die helfen. Es gibt eine Riesenmasse an Menschen; man muss aufpassen.

Gestern hab ich von der Liebe geschrieben. Als allgemeine Idee ist sie einfach begeisternd.

Aber dann, in den kleinen Dingen wird es schwierig. So ein kleines Ding ist im Moment z.B.die Kommunikation zwischen Ivan und mir. Bei jedem kleinen Vorschlag von meiner Seite, bei jeder kleinen Meinungsverschiedenheit fühlt er sich angegriffen und greift dann mich an. Und ich kann nicht aufs Maul hocken. Ich müsste ihn in dieser schwierigen Situation jetzt einfach Direktor sein und seines heiligen Amtes walten lassen, und diese Tatsache nicht durch irgendeine andere Meinung in Frage stellen –aber wie wehrt sich da mein Schweizersein und mein Ichlein dagegen. Vielleicht halte ich Euch auch über diese weltbewegende Kleinigkeit auf dem Laufenden; es handelt sich ja nicht wirklich um eine persönliche Angelegenheit. Obwohl, vielleicht ist das auch eine Unterstellung, dass ich mit solchen Automatismen nicht allein bin.

Unsere Flüchtlinge wollen helfen, aber sie sind auch ein bisschen wie gelähmt. Wir dachten, sie können beim Sortieren der Randen, die wir jetzt alle an die Armee verkaufen können, helfen. Aber unsere Frauen sind nicht gewohnt, für eine Gruppe die Arbeit zu organisieren, so haben sie sich über die herumstehenden, frierenden Frauen und Kinder geärgert und alle einfach weggeschickt. Gestern auf der Farmexkursion habe ich unsern Gästen auch unser Zwischenlager für Glas und PET-Flaschen gezeigt, wo wieder ein Riesenchaos herrscht (wenn man da für zwei Monate nicht war, entsteht wie automatisch von neuem ein Chaos, und das völlig selbsterklärende System ist über den Haufen geworfen), und heute haben sie selber vorgeschlagen, dort Ordnung zu machen. Da sind sie nun also, die guten Seelen und versuchen ihrer Panik Herr zu werden.

Am Abend: Das Glas- und Petflaschenlager ist aufgeräumt, der herumfliegende Karton gebündelt. Und jetzt haben unsere besonderen Gäste angefangen, die «Alp», die Sommerweide der Kälber zu putzen.
Am Abend dann sassen sie alle müde, zufrieden und mit roten Backen am Tisch. Auch die Jungs (zwei Zehnjährige und ein Halbwüchsiger) haben fast den ganzen Tag draussen bei relativer Kälte und Wind mitgearbeitet.

Kurz vor Arbeitsende haben wir uns alle in unserer kleinen Winterküche versammelt, und die Frauen wurden geehrt, weil morgen der 8. März, der Tag der Frauen ist.

Zum Schluss möchte ich mit Euch die Gedanken von Ulrike Mackay teilen: 4. März

Liebe Cristina,
ganz besonders hat mich in Deinem Bericht erschüttert: "Das sind keine Menschen". Ich musste sofort an Friedrich Glasl denken und habe nach den Stufen des Konflikts gesucht. Die Entmenschlichung des Gegners ist Stufe 7 von 9! In den ersten drei Stufen können noch beide "gewinnen", bei 4, 5, 6 wird einer verlieren, aber bei 7, 8, 9 werden beide verlieren. (Beispiele von Entmenschlichung: Nazizeit: Die Juden als Ungeziefer. Im Vietnamkrieg: Die Schlitzaugen - oder: Die Punkte hier im Zielfernrohr) Ich schicke Dir ein Link mit einer kurzen Zusammenfassung... Da waren die vorigen Berichte doch noch hoffnungsvoll. Aber noch denken/fühlen ja nicht alle so wie dieser Freund. Möge die Kraft der Menschlichkeit
gerettet werden allen furchtbaren Erfahrungen zum Trotz...

6. März
Liebe Ulrike,
Danke Dir für Deine Gedanken. Aber was sollen wir hier machen? Die Situation schreit ja auch nach Taten. Sicher, man muss bei sich selber anfangen. Und doch kann man jetzt nicht warten, bis man ein anderer Mensch geworden ist.

7. März
Liebe Cristina

Ich habe auch noch weiter nachgedacht über die Idee, es sollten viele (am liebsten Millionen) Europäer in die Ukraine strömen (ich kenne auch hier Menschen, die das wollen...). Und ich musste an die grossen Märsche der indischen Bauern nach Delhi (2007 und 2012) denken. Ich erinnere mich, dass jemand darüber erzählte (vielleicht war es sogar Rajagopal selber), dass das sehr gut organisiert werden musste, auch die Verpflegung natürlich, und dass sie viele (sehr viele!) Helfer hatten die gut geschult waren in gewaltfreier Kommunikation, die über den Zug verteilt mitliefen und überall eingriffen, wo nötig, auch schlichtend. (Ich glaube, das waren 100 000 oder 200 000 Menschen auf dem Marsch).

Taten, ja, - ich glaube, wir hier sollten uns nicht einbilden, uns wirklich in Eure Situation hineinversetzen zu können.
Und doch muss ich immer wieder an das denken, was uns von Elementarwesen immer wieder zugerufen wird: Vertraut Eurer Kraft! Eure Gedanken sind so mächtig! Warum vertraut ihr nicht darauf? In einem Buch von Tanis Helliwell ("Elfensommer") sagen die Elementarwesen zu den Menschen: "Was ihr visualisiert, wird im Äther wahr. Die Menschen bgreifen nicht, dass jeder Gedanke im Äther gespeichert wird. Je stärker der Gedanke ist, desto stärker ist die Aufzeichnung. Würden die Menschen sich sauberes Wasser und gesunde Wälder vorstellen und deren Elementarwesen um Hilfe bitten, könnten sie die Erde in kurzer Zeit heilen." Das bedeutet aber doch auch, dass es unendlich wichtig ist, was in unsern Gedanken und Vorstellungen und Emotionen lebt. Es sind Wirklichkeiten und sie schaffen Wirklichkeiten... Gelingt es uns (möglichst vielen von uns Menschen), im Innern Friedenskraft zu schaffen, Friedensmut - und uns in diesem miteinander zu verbinden?

Gestern, am 5.3. sind noch Nataschas Mutter und ihre Cousine mit zwei Söhnen angekommen. Die Reise sei schlimm gewesen, haben sie gesagt, ich hab nicht nachgehakt. Jetzt ist unsere Hoffamilie um neun Menschen grösser geworden.
Vor dem Mittagessen hat Natascha das Vaterunser gesprochen und dann Gott gebittet, dass er uns durch diese Nahrung Kraft geben möge für den Frieden. Die Ukrainer haben eine sichere, emotionale Kraft.

Es sind schöne, ruhige Menschen; das Zusammenleben mit ihnen ist schön und unkompliziert. Vor allem die 22 jährige Sascha, Malerin, ist mit einer grossen Geduld und Sanftmut und Heiterkeit immer am sorgen, kochen, aufräumen. Auf meine Bemerkung sagte sie, diejenigen die Kraft hätten, könnten das auch machen.
Vor allem Natascha starrt fast ununterbrochen gebannt in ihr Smartphone und sucht nach Schreckensmeldungen, oder wie es ihren andern Lieben geht, deren viele noch in der Nähe von Kiev sind. Dima, der Sohn von Ira hat einen Platz in einem Auto gefunden und ist auf dem Weg hierher.
Sie hat erzählt, dass russische Soldaten auf Frauen und Kinder geschossen hätten, die man evakuierte. Auch anderes Schlimmes hört man.
Die beiden Frauen hier haben noch ihre Schwiegermütter in Russland und telefonieren mit ihnen. Die würden ihnen schlicht nicht glauben, was hier in der Ukraine abgehe, sosehr scheint die russische Propaganda zu wirken.
Ich hab jetzt schon zwei, drei mal in die Runde gefragt, ob sie es nicht besser fänden, zu kapitulieren, da die ukrainische Armee doch keine Chance hätte gegen die russische. Ob sie wirklich bis zum letzten Ukrainer kämpfen und in einer völlig zerstörten Ukraine weiter leben wollten.
Natascha: das geht nicht mehr. Putin würde daraus eine Riesenpropaganda machen und weiterhin wüten und sein Volk weiterhin knechten.
Ivan: aber die russische Armee ist doch gar nicht stark. Viele Soldaten wollen doch gar nicht in den Krieg.

Und es gibt eben auch Geschichten der andern Art, dass die Menschen unbewaffnet auf die Strassen gehen, sich vor die Panzer stellen, bis die Fahrer sich ergeben. In Cherson hat man einen unbeschädigten russischen Panzer mit ukrainischer Flagge gesichtet, das heisst doch, die Beatzung hat sich kampflos ergeben. Das ist die Stärke der Ukrainer, diese nicht unterzukriegende, friedliche, selbstsichere Kraft. Das haben sie durch ihre orange und die Maidan-Revolution bewiesen. Da haben sie auch bewiesen, und beweisen es jetzt, wie gut sie organisieren können. Und dennoch, es gibt jetzt immer weniger solche Geschichten des zivilen Widerstandes.
Aber Kiev ist tatsächlich noch nicht gefallen.
Vielleicht gibt es wirklich keinen andern Weg, als diesen Kampf zu kämpfen. Und wir dürfen nicht vergessen: einmal mehr schützt die Ukraine den Westen. Alle, die man hier fragt, sind überzeugt, dass die Ukraine standhalten und siegen wird.
Ich fange an, mich wirklich zu sorgen, nicht um mich, aber um die Ukraine.
Wäre es nicht das einzig Vernünftige, dieser Idee von Armin zur Wirklichkeit zu verhelfen? Eine Million Menschen aus dem Westen marschiert als Friedenskonvoi in die Ukraine ein. Alles andere bringt nur Zerstörung und unendliche Not. Und wir sind doch hier, unsere Erde zu lieben. Tolstoi hat gesagt: Die einzige vernünftige Handlung des Menschen ist die Liebe.
Und irgendwann wird s i e siegen.

Der Autostrom an die Grenze nimmt nicht ab. Man sagt, in Berezhany und Umgebung seien schon neuntausend Flüchtlinge in Kindergärten, in Internaten, in Schulen untergebracht.

Heute nacht werden nochmals 13 Menschen bei uns übernachten, auf dem Weg in den Westen.

Bei uns ist es nach wie vor grau und kalt.
Heute mittag standen unsere Flüchtlinge aus Kiev plötzlich da. Sie konnten mit einem Evakuationszug (mit vier Wagen) von Kiev nach Lemberg fahren, woher ein alter Freund sie in einem Auto zu uns gefahren hat. Sie erzählen, dass Flugzeuge über Kiev fliegen und bombardieren, bombardieren, bombardieren.
Eine von ihnen ist unsere Ira, eine Frau der ersten Potutorystunden, die etwa fünf Jahre bei uns auf dem Hof gelebt und alles mögliche versucht, aber einfach nicht ihren Platz gefunden hat: sie hat gemolken, Käse gemacht, im Garten geholfen, war Köchin. Sie und ich hatten es sehr schwer zusammen. Unsere Vorstellungen von Sauberkeit und Ordnung gingen diametral auseinander. Und sie ist eine Künstlerin, eine künstlerische Seele; alles was sie in die Hand nimmt, sieht nachher einfach gut aus. Meine Erziehungsversuche haben sie kopfscheu gemacht. Damals hab ich es noch mit einer Art pädagogischer Methode versucht, um die Leute vom Wert der Sorgsamkeit zu überzeugen. Irgendwann, aber das war dann schon nach Ira, hab ich einfach angefangen, die Regeln ohne Diskussion durchzugeben und hab gemerkt, dass das die Menschen besser akzeptieren können.
Irgendwann auch hab ich herausgefunden, dass Ira Designerin ist, mit einer richtig guten künstlerischen Ausbildung. Dann hat sie angefangen, das Design für unsere Kräuterprodukte zu entwickeln, und seither sind wir fast ein Traumteam. Und ich bin stolz auf unser künslerisches Design und auf Ira. Sie hat auch unser schönes Hoflogo entworfen und zudem zwei wunderschöne Schränke gestaltet, die unsere Aufenthaltsäume zieren.
Nachdem Ira mit ihrem Sohn Dima Potutory verlassen hatte, hat sie eine rechte Odyssee hinter sich gebracht. Danach hat sie, glaub ich, ihren Platz gefunden. Seit bald drei Jahren ist sie Mal-Lehrerin in der Waldorfschule Quint in Kiev.
Jetzt ist sie also wieder bei uns. Sie ist in grosser Sorge um ihren Sohn, der noch nicht aus Kiev herausgekommen ist.
Mit Ira zusammen kam auch Natascha mit einer erwachsenen Tochter und zwei halbwüchsigen Söhnen, und sie sind auch in grosser Sorge, um ihren Vater, der noch in Kiev ist und es nicht verlassen darf.
Dann sind noch zwei junge Familien mit kleinen Kindern hier, die nur übernachten und morgen nach Transkarpatien weiter fahren wollen.
Igor, einer der Männer, ist überzeugt, dass die Ukrainer so schnell wie möglich aufhören sollten, zu kämpfen, es sei ein Kampf zwischen einem Elefanten und einem Mops, Putin lebe auch nicht ewig. Er ist überzeugt, dass Ukrainer, Weissrussen und Russen einer Familie angehörten, und dass sie nicht gegeneinder kämpfen, sondern miteinander reden sollten. In diesem, wie in jedem Krieg gehe es sowieso nur um den Profit von einigen wenigen. Er hat auch behauptet, dass die Unterdrückung der Ukraine und des Ukrainischen reine Propaganda sei, und er hat einige Gegenbeispiele ins Feld geführt. Als er jedoch angefangen hat das System der Sowjetunion begeistert zu verteidigen, ist dann doch eine heftige nächtliche Diskussion zwischen uns ausgebrochen.
Rundherum war schon alles stockdunkel, nur unsere Fenster waren noch hellerleuchtet – bis wir es gemerkt haben und schleunigst ins Bett gegangen sind.

Am Morgen lag ein bisschen Schnee, aber er ist schon fast wieder verschwunden. Es ist kalt und grau, aber die Knospen der Strauchpfingstrosen schwellen schon, und die ersten Leberblümchen trauen sich, wenn auch noch sehr zerknittert, hervor.

Unser neuer Bauchef Jaroslav arbeitet doch weiter bei uns. Letzte Woche kam er einfach eines Tages nicht, und es ging das Gerücht, dass er andere Arbeit gefunden habe. Dann tauchte er doch wieder auf, und meinte, nein, nein, er hätte nur sein Auto verkaufen wollen und plane, bei seiner Schwester noch eine Mauer zu bauen, sonst wolle er gerne bei uns arbeiten. Und wir haben ihn wieder genommen...Er hat übrigens die meisten der schönen Kalksteinmauern in Potutory gebaut. Morgen müssen wir unbedingt ein Aufnahmegespräch mit ihm führen. Heute hat er mit seinem Gehilfen Ivan, dem Langen, die Treppenabsätze im Laufhof der Kühe befestigt, damit diese wieder in die frische Luft können. Jedenfalls sieht man Jaroslav nie einfach so in der Gegend herumspazieren, und zudem ist er relativ zügig unterwegs. Auch ist er nett und lacht und bringt ein bisschen Frohsinn in unsere arg ausgedünnte Männerbrigade. Schauen wir mal.

Unser Evgen Boyko, Direktorsohn, Historiker und Lebemann fährt jeden Morgen unsere 200 bis 300 Liter Milch nach Berezhany zu den Läden, auf den Markt und zu den Privatkunden. Er ist bei den Kunden beliebt, weil er auch Charme hat. Wir haben schon einige Tricks versucht, die ihn nötigen sollten, zügiger von der Milchtour zurück zu sein. Die Tatsache, dass wir immer neue Tricks erfinden müssen, zeigt, dass sie nicht besonders erfolgreich waren bis jetzt. Im übrigen hilft er unterdessen tatsächlich auch sonst überall mit, wo Not am Mann ist. Das war nicht immer so. Wenn draussen Saison ist, ist er ein begeisterter Traktorist. Weil er einen guten Kopf hat, kann man ihn auch beim Reparieren brauchen.

Heute nach der Milchtour kam er ganz angeregt ins Büro und hat mir eröffnet, dass er in der Gebiets-Schutzbrigade mitmache, und in dieser Mission müsse er jetzt samt dem Opel wegfahren. Dieser Gebietsschutz errichtet Brigaden und Panzersperren und hat Kontrollfunktion. Bald würden sie auch mit Gewehren ausgerüstet werden. Ich sagte schüchtern, man könnte doch auch auf die Russen unbewaffnet zugehen und mit ihnen, wie mit Menschen zu reden versuchen, weil Gewalt nur neue Gewalt gebäre. Das seien keine Menschen, war seine Antwort, und er erzählte von Saboteuren, die mit gestohlenen ukrainischen Polizeiautos oder Krankenwagen in Kiev und Umgebung herumführen... und andere Schauergeschichten. So motiviert hab ich ihn noch selten gesehen.

Sehr oft hört man jetzt die Grussformel: Слава Україна! (Herrlickeit oder Ehre der Ukraine).
Es läuft mir kalt den Rücken herunter, und doch muss ich die Ukrainer verstehen. Sie haben soviele sehr schlimme Erfahrungen gemacht mit den Russen, immer wurden sie von ihnen unterdrückt und missbraucht, dass sie gar keine Hoffnung haben, dass man mit reden etwas bewirken kann. Auch wenn das stimmt, dass die Ausweitung der Nato ein grosses Unglück war, und dass das Putin provoziert hat, bleibt doch die Frage, ob er nicht einen andern Grund gefunden hätte für diesen Eroberungskrieg, mit dem er die Ukraine unterwerfen kann. Er hat die Selbständikeit der Ukraine nie akzeptiert.

Morgen kommen fünf Flüchtlinge aus Kiev zu uns.

Es schneit bei uns. Seit zwei Wochen hört man abends und des morgens früh das Waldkäuzchen sehr oft rufen. Es lebt mit seinem Weibchen auf und unter unsern Eternitdächern. Tagsüber sieht man sie oft wie Federknäuel reglos auf einem First sitzen, manchmal eine halbe Stunde oder mehr. Manchmal hüpft eines über die bemoosten Eternitplatten, manchmal segelt eines plötzlich lautlos davon – und verschwunden ist es. Man sagt ihnen doch auch Totenkäuzchen, diesen geheimen Gästen.

Heute fand der Gedächtnis-Gottesdienst für Taras’ Grossmutter statt. Dieser wird jeweils am 9. Tag nach dem Tode zelebriert. Es war sehr kalt in der Kirche, aber sehr schön. Der Priester mit seinen Handlungen und dem Sprechgesang wurde immer wieder von der Empore herunter sekundiert von einem schönen Tenor: Gott, erbarme Dich unser! hundert mal in allen Variationen.

Nachher bin ich direkt zu Galina Protziv nach Berezhany gefahren, um mit ihr über einen «Friedenskonvoi» (siehe mein gestriges mail) zu sprechen. Sie organisiert zurzeit die Hilfspakete für unsere Soldaten. Das Gymnasium wurde in eine richtige Kommandozentrale umgewandelt. Im Korridor stapelt sich die Ware, die die Bewohner von zu Hause bringen, und das, was Läden liefern. In einem Zimmer werden Konserven und andere Fertigmenues hergestellt, in einem andern werden Stoffe für wahrscheinlich Tarnungszwecke umgearbeitet, in einem dritten wird alles in säuberlich angeschriebe Schachteln verpackt. Laufend kommen und gehen Transporte. Es ist wie in einem Bienenhaus.
Über das nicht grad ermutigende Gespräche mit Galina Protziv hab ich ja schon im mail gestern das nötige berichtet, ebenso über dasjenige mit meiner Freundin Maria.
Jetzt herrscht die Logik und die Begeisterung des Krieges, eines «gerechten Krieges». Meine Freundin Maria hat sich sogar zum Ausruf hinreissen lassen: Gott ist mit u n s !» Ja, wahrhaftig: Gott erbarme Dich unser.

Ich weiss nicht, ob ich vielleicht doch noch jemanden finde, der sich begeistern lässt für einen Friedensmarsch.

Ich hoffe, einige von Euch haben das Video mit dem Referat «Über Europas Verantwortung für eine Friedensperspektive» gesehen.
Eine Freundin hat mir wieder etwas Wichtiges in Erinnerung gerufen: Es ist heilsam und hat eine Wirkung, wenn man die Dinge richtig denkt. Das ist auf jeden Fall der erste Schritt, wenn man etwas verändern will.

Am Nachmittag hab ich dann noch das Lager im Melkblock fertig geputzt und grad noch den danebenliegenden Aufenthaltsraum. Neben allerhand Unrat hab ich auch noch zwei Schnapsflaschen und Schnapsgläslein gefunden.Auch das ist unsere Normalität, dass man mit solchen Leuten arbeiten und dennoch eine Ordnung aufrechterhalten muss. Normalerweise gibt es eine saftige Busse für Alkohol im Blut, aber wir müssen es halt auch merken. Ich glaub, ich weiss, wessen Hinterlassenschaften das sind. Vor zwei Wochen ist er grad noch rechtzeitig nach Polen zur Arbeit gefahren. Es ist der Mann, den unsere tüchtige und fröhliche Anja II. vor einem halben Jahr geheiratet hat, und über den sie froh und stolz gesagt hat, er habe Geld, ein Haus und trinke nicht. Er ist ihr vierter Mann, die drei andern hat sie wegen deren Alkoholproblemen verlassen. Aber gegen aussen war Anja nach wie vor fröhlich und positiv. Jetzt ist sie ja sowieso in Polen, aber dem Vernehmen nach nicht bei ihrem Mann.

Am Abend waren wir zu einem ZOOM- «Stammtisch» des Bauernverbandes ABL Nordost eingeladen. Sie wollten aus direkter Hand hören, wie es den Bauern in der Ukraine geht. Um 20 Uhr MEZ haben sie plötzlich das Licht gelöscht, und man hörte die Kirchenglocken läuten, alles aus Solidarität mit uns in der Ukraine. Bei uns war es rundherum schon stockdunkel, nirgends das kleinste Licht, nur die Fenster unseres Büros waren hellerleuchtet.

Bei uns ist es nach wie vor ruhig, und alles funktioniert. Also sozusagen Normalzustand.

Heute habe ich das Lager des Melkstandes wieder einmal aufgeräumt und geputzt und mich wieder mal gewundert, wie es möglich dass, wie in so kurzer Zeit so ein Chaos entstehen kann. In der grossen Kiste, die da steht, waren einfach alte, dreckige Kleider, die niemand mehr braucht, rein gestopft, die Plastic (!)-Milchflaschen für die Milch lagen, wenn auch in grossen Plasticsäcken auf dem Boden herum, und es gab überall eingetrockneten Katzenkot von der Katzenfamilie, die hier gehaust hat, und die unterdessen mindestens hinauskomplementiert worden ist. Jetzt ist wieder einigermassen System und Ordnung für eine gewisse Zeit eingekehrt.

Am Nachmittag hatten wir Kräuterfrauen Besprechung. Normalerweise haben wir um diese Zeit eine Fortbildungsstunde, in der wir uns zurzeit mit Botanik beschäftigen, wobei es wahrscheinlich abenteuerlich ist, wie ich mit meinem schlechten Russisch die Wunder der Pflanzenwelt rüberbringe. Aber die Frauen sind sehr grossmütig und geben sich Mühe, mich zu verstehen und haben darin ja auch schon eine gewisse Übung.
Ich wollte mit ihnen heute die Situation des Kräuterbetriebes besprechen, denn da herrscht zurzeit nicht der Normalmodus. Seit der Invasion kam keine einzige Bestellung rein, denn die Kurierpost hat ihre Dienste ausgesetzt, ein bisschen wird in Berezhany und auf dem Hof gekauft. Einzahlungen auf unser Konto wurden seither auch nicht mehr getätigt. Es gibt noch eine gewisse Reserve auf dem Bankkonto, die vielleicht für drei oder vier Monate reicht. Was machen wir, hab ich gefragt. In ihrer trockenen Art (mit dem Humor auf den Stockzähnen) machten sie klar, dass wir selbstverständlich anfangen im Garten, eine andere Möglichkeit gäbe es nicht, und: «alles wird gut!»(ein beliebter ukrainischer Ausspruch). Aber keine von ihnen hat gesagt, sie würde auch mit weniger Lohn arbeiten. Soweit ist es doch nicht gekommen. Ok, «schauen wir» (ebenfalls ein beliebter Ausspruch hier).

Im Stall hat unser junger Stall-Leiter Mykola (wobei ich versucht bin, den «Leiter»in Anführungszeichen zu setzen, aber er ist sehr sympathisch und gibt sich Mühe, hat einfach noch wenig Erfahrung) angeboten, zwei Tage für Taras zu melken, damit dieser frei machen kann.

Heute hat unser rechtshändiger Taras Geburtstag. Ivan hat ihm beim gemeinsamen Znüni das übliche Kuvert mit dem Hunderternötli (Grivnas!) überreicht und ihm aus tiefstem Herzen alles Gute gewünscht und ihm gedankt, dass er bei uns arbeite und so eine tragende Kraft sei. Ivan, der Grosse, Starke hatte sogar Tränen in den Augen.
Nach dem Znüni hat Taras das Telefon bekommen, dass er einrücken muss, zuerst vielleicht nur hier in der Nähe – und schon ist er weg. Er war die Ruhe selbst.

Dann kam ein mail mit der Bitte, Flüchtlinge aufzunehmen, damit sie nicht ausser Landes fliehen müssten. Ivan hat dazu gemeint, er wolle aber nicht, dass sich junge Männer von andern Regionen hier versteckten, und unsere Männer müssten in den Krieg. Da aber alle Flüchtlinge registriert sein müssen, wird sich niemand hier verstecken können. Es scheint alles recht gut organisiert zu sein.

In Kiev kann man einfach in den Zug steigen, ohne etwas zu bezahlen, auch telefonieren ist mit allen Anbietern gratis, und alle funktionieren.
Ivan meint, wir müssten noch kurze Zeit durchhalten und darum alle Kräfte anspannen, es könne nicht mehr lange gehen.

Am Nachmittag hatten wir eine Besprechnung mit Taras Starko, der jetzt schon 6 Jahre bei uns als Melker arbeitet, weil wir das Problem mit der fehlenden Anja lösen müssen.
Bevor ich darüber berichte, muss ich ausholen: Taras ist jetzt 22 Jahre alt. Seine Mutter starb als er 17 war, der Vater war schon vorher gestorben, und sie hinterliess, neben Taras, ihren 2 jährigen, leicht behinderten Sohn, den Dima. Im gleichen Haushalt wohnten damals noch Taras’ Grossvater väterlicher- und seine Grossmutter mütterlicherseits, welche schon ziemlich verwirrt war.

Der Grossvater war einer wie aus dem Märchen, leicht gebeugt, mit härenen Kleidern, einem grossen Hut und einem knorrigen Stock. Er hatte früher, an unserer Farm vorbei, ihre Kuh und das Kalb auf die Weide getrieben. Ich seh ihn noch vor mir, wie er sozusagen täglich unser nachlässig geöffnetes Gartentörchen sorgfältig geschlossen hat, damit die Kühe nicht in den Garten ausbüchsen, und sein Gruss war immer ein gütiges: «Gebe Gott dir Gesundheitchen». Er starb bald darauf. Jetzt war der 19 jährige Taras sozusagen der Vater des Hauses. Auch Taras seh ich noch vor mir, wie würdig er an der Aussegnung seine Aufgabe wahrgenommen hat. Kerzengerade sass er neben dem Sarg, wie ein König (obwohl die Familie zu den Ärmsten des Dorfes gehört), er strahlte eine grosse Sicherheit aus. Er hat die Kerzen gerichtet, die Trauergäste und dann den Priester begrüsst, wie es sich gehört – und einfach alles richtig und würdig gemacht.

Danach wurde Taras der Vormund seines kleinen Bruders Dima.
Kurze Zeit danach tauchte sein Onkel Fjodr auf und liess sich häuslich bei Taras nieder. Man munkelte, dass seine eigene Tochter in Kiev ihn bei sich rausgeschmissen habe, was man sich bei dem einigermassen interessanten Charakter des Onkels einigermassen gut vorstellen konnte. Jetzt hatte Taras also einen Tyrann im Haus. Nach und nach wurde noch eine Kuh, wurden Schweine, Ziegen angeschafft, es wurden Kälber geboren, bis eine recht eigentliche kleine Landwirtschaft entstanden war. Bevor Taras morgens zu uns zum Melken kam, hat er zu Hause gemolken (während sein Onkel schlief), nachher hat er die Milch zu Quark und Smetana verarbeitet, und der Onkel hat das verkauft, und das Geld in den eigenen Sack genommen. Daneben hatten sie noch einen grossen «Garten» mit Kartoffeln, Futterrüben, Futterkürbis u.a., ein Getreidefeld, welches alles bearbeitet werden musste. Alle haben sich über diesen Zustand empört, aber wenn man Taras gefragt hat, ob er das wirklich wolle, hat er gemeint, etwas eigenes zu haben sei halt auch gut, und er hat weiter gearbeitet und gearbeitet, ohne Klagen. Im Gegenteil, er war immer fröhlich und freundlich, der Taras.
Im letzten Mai hat er die Silage mit unserer Futterschneidemaschine geschnitten und wollte, ohne die Maschine abzustellen, etwas Material aus dem Transporteur herausnehmen und - da hat es ihm den rechten Arm in die Maschine hineingezogen. Es war ein furchtbarer Unfall. Der andere Taras hat mit seinen geschickten Händen schnell und sicher die Maschine zuerst geöffnet, damit man den Arm befreien konnte. Aber es dauerte sowieso viel zu lange. Im Nachhinein hat Taras gesagt, er hätte einen solchen Schock gehabt, dass er die Schmerzen nicht gespürt hätte. Es gab eine sechstündige Operation, um die zerschmetterten Knochen in einem ersten Schritt einigermassen zusammenzuflicken. Später gab es noch zwei Operationen, und jetzt kann Taras seine Hand und seinen Arm wieder gebrauchen! Es ist ein unglaubliches Wunder. Gott und dem Arzt sei aus tiefster Seele gedankt. Sieben Monate konnte Taras nicht arbeiten. Er hat die Zeit genutzt, um über sein Leben nachzudenken. Er hat es tatsächlich geschafft, den Onkel aus dem Haus zu entfernen, freundlich, ruhig, ohne Streit, und der Onkel hat gleich noch die Kühe mitgenommen; die Ziegen und Schweine wurden verkauft. Unser Ivan hat auf ebenso bewundernswürdige Art Taras begleitet und immer das Richtige gemacht, um ihn zu unterstützen.

Vor einer Woche ist die Grossmutter gestorben. Obwohl sie etwas verwirrt gewesen war, hatte sie dennoch einiges im Haushalt gemacht und war einfach durch ihr Dasein eine Stütze für Taras und für Dima. Am letzten Mittwoch, am Tag vor der Invasion wurde sie mit all den wunderbaren Ritualen der griechischkatholschen Kirche bestattet. Da lag sie in der guten Stube, die sterbliche Hülle des alten, kleinen verhutzelten Weibleins mit der grossen Nase, die Gesänge fluteten, der Priester mit dem gütigen, wissenden, vergeistigten Antlitz verrichtete die Handlungen, dann wurde der Sarg geschlossen, vier unserer jungen Männer haben ihn in die Kirche getragen (das war auch so berührend, diese Fürsorglichkeit unserer Khlopzis). In seiner kurzen Ansprache hat der Priester allen gedankt, die an die Verstorbene denken und insbesondere auch unserem Ivan, dass er für Taras wie ein Vater sei. Nach den Ritualen in der Kirche mit wiederum Gesängen und heiligen Handlungen fuhr ein Auto mit dem Sarg auf den Friedhof, die Trauergemeinde ging zu Fuss hinterher. Dort wurde er, wiederum von unsern Männern und unter weiteren Gesängen, in die Grube gelassen. Alles bei strömendem Regen, aber der Himmel war irgendwie offen.

Seit Anfang Jahr arbeitet Taras wieder bei uns als Melker, bis vorgestern im Zweitagesrhythmus mit Anja.Was nun? Taras sieht müde aus und sagt, er schaffe es nicht, jeden Tag zu melken. Sein kleiner Bruder ist ja dann immer allein zu Hause. Vorläufig helfen wir ihm insofern, als er nur melken muss, und das Putzen und Aufräumen danach übernehmen die Gartenfrauen. Aber wir brauchen dringend eine Melkerin.

Die Bezirksregierung hat ein Alkoholverkaufs- Verbot ausgesprochen. Es gibt immer mehr Flüchtlinge mit teuren Autos aus dem Osten, die hier Häuser kaufen und dann unglaubliche Gelage veranstalten. Das will man mit dem Verbot unterbinden.

Heute haben die Gespräche zwischen Delegierten aus Russland und der Ukraine stattgefunden.....

Unsere Anja II mit ihren Kindern ist jetzt also in Polen, wo sie, wie alle andern Flüchtlinge, von den Polen aufs herzlichste empfangen worden sei. Es stehe genügend Raum für die Flüchtlinge zur Verfügung.

Heute hat Maryna Gonzuaze aus der Nähe von Kiev angerufen. Sie ist Ukrainischlehrerin in der Waldorfschule Sofia Kiev und war schon zweimal mit einer Klasse bei uns. Jetzt aber findet keine Schule statt. Sie befindet sich im Dorf bei ihren Eltern, wo sie in einer kleinen, armen Landwirtschaft aufgewachsen ist. Sie hat mir früher mal erzählt, dass sie sich immer so geschämt habe, «aus dem Dorf» zu kommen. Sie hat in Kiev Ukrainisch studiert und wollte «dem Dorf» entkommen. Sie sagte, durch die Landwirtschaftspraktika bei uns, habe sie gelernt, dass es möglich sei, die ukrainische Erde zu lieben.

In Kiev sei es jetzt schlimm, richtiger Krieg, und es gebe absolute Ausgangssperre. Es gebe plündernde Marodeure, russische, aber auch ukrainische. Aber die Polizei schütze die Bevölkerung. «Warum nur gibt es diesen Krieg. Wir wollen und müssen doch die Ukraine aufbauen!» Und sie werde ihre Heimat ganz sicher nicht verlassen, was solle sie denn in Deutschland.

Und sie erzählte vom Dorf Korjukiwka, im Sumy Oblast, ganzim Nordosten des Landes, wo eine zwei Kilometer lange Panzereinheit sich dem Dorf genähert habe. Alle Einwohner seien mit offenen Armen auf die Strasse gegangen, jung und alt, hätten die Panzer gestoppt, mit den Soldaten geredet, und sie gebeten, nach Hause zu gehen. – Und die Panzer hätten umgedreht und seien zurückgefahren, von woher sie gekommen seien.

Dann geht die Sage von russischen Soldaten, die, nachdem sie erkannt hätten, dass sie nicht zu Waffenübungen, sondern in den Krieg in die Ukraine führen, sich geweigert hätten loszumarschieren. Auch sei die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Diesel absolut ungenügend.
Eine weitere Sage handelt von Kadyrov, dem General der tschetschenischen Sondereinheit, der sich ebenfalls weigere, am Krieg in der Ukraine teilzunehmen.

Alle diese drei wunderschönen Geschichten hab ich noch nicht in Zeitungen gelesen, leider, aber die Menschen hier erzählen sich das, und haben es wahrscheinlich aus den sozialen Medien.
Meine Freundin Maria, ebenfalls Ukrainischlehrerin, aber in Berezhany, hat erzählt, dass am 18. Februar, welches der 7. Jahrestag für die ersten Opfer auf dem «Maidan»2014 gewesen sei, über diesem Platz Maidan ein Regenbogen gestanden hätte. Sie ist überzeugt, dass das ein gutes Zeichen sei. Als Bekräftigung erzählte sie, dass eine Rakete von Weissrussland auf Kiev abgeschossen worden sei, die ukrainische Luftabwehr habe diese Rakete getroffen, und diese sei mitten in einem Wohnquartier mit riesigen Wohnblöcken abgestürzt – aber genau und parallel zwischen zweien von ihnen. Da habe der Engel der Ukraine mitgewirkt.

Sie ist im Übrigen ebenso von der Wirkkraft des Betens überzeugt, wie vom guten Zeichen. Man müsse dreimal täglich für Putin beten und einmal für unsere Soldaten.

Die Mission bei Milli war wieder nicht von Erfolg gekrönt, sie weigert sich standhaft, sich dieses Altersheim anzusehen, nimmt es aber selbstverständlich in Anspruch, dass Anja I alles für sie macht. Heute hat Anja I Ordnung gemacht und geputzt, wobei ich mir das Wasser im Putzeimer, nach vollbrachter Tat, lieber nicht genauer angeschaut habe, ebensowenig den sogenannten Schwabbro (das Gerät mit den langen Fäden, um den Boden feucht aufzunehmen). Aber dass er dunkelgrau war, das zu sehen konnte ich nicht vermeiden. Dass ich an der Aktion nicht teilgenommen habe, ist nicht besonders rühmlich, aber ich hatte eine gute Ausrede: ich habe Milli ein bisschen nach ihrem Leben ausgefragt. Mit Händen und Füssen und Mimik haben wir uns verständigt. Sie war Buchhalterin und hat immer gearbeitet, weil sie keine Kinder hatte. Sie war verheiratet und hat ihren Mann geliebt, und er sie. Es gibt im Zimmer ein schönes Hochzeitsfoto von der schönen jungen Milli und ihrem Mann. Sie hat gern gesungen und getanzt (sie demonstrierte humpelnd und hüpfend und strahlend, w i e gerne). Was sie mir nicht erzählt hat: dass ihr Mann seine Familie für sie verlassen hatte und dass sie, als sie jünger war, die Familie von Anja I nicht kennen wollte und sie nie besucht habe. Das hat mir nachher Anja I beigebracht. Und erst seit Milli hilfsbedürftig sei und niemanden habe, habe sie sich erinnert, dass Anja ihre Cousine sei. Anja I und II haben der Milli auch den Spitalaufenthalt finanziert und die Medikamente bezahlt, weil sie beteuerte, sie habe kein Geld. Und heute haben wir zufällig ihr dickes Portemonnaie gesehen.... Anja I war empört. Sie hat der Milli angekündigt, dass, wenn sie nächstes mal komme, und es sei wieder so eine Sauordnung, sie einfach rechtsumkehrt mache, und überhaupt komme sie nur noch einmal täglich, und die Ziege melke sie auch nicht mehr. Das könne Milli selber machen, s i e hätte die Ziege ja unbedingt gewollt. Anja I ist nämlich überzeugt, dass die Milli sie einfach manipuliere. Aber trotzdem macht sie das alles für sie. Milli kann im übrigen auch wieder herumhumpeln, und mit den Schmerzen scheint es auch nicht mehr so schlimm zu sein.
Das heisst, diese Mission ist für mich bis auf weiteres beendet, denn unter Tags kann Anja mit dem Fahrrad dahin fahren und braucht keinen Transport mehr.

Gestern nacht wurde alles verdunkelt, aber es scheint die ganze Nacht, mindestens in unserer Nähe, ruhig gewesen zu sein.
Von Kiev gibt es immer noch die Meldungen, dass um die 2,5 Millionen-Stadt gekämpft wird.
In Lviv ist eine Fallschirmbrigade abgesprungen.

Beim Morgengrauen, grad als ich mich auf meinen morgendlichen Stallrundgang begab, kam ein Flugzeug von Südosten her gedonnert und flog so niedrig über mich hinweg nach nordwesten, dass der Pilot mich mit meinem Milchkesseli bestimmt erkennen konnte. Man hat dann aber keine Detonationen gehört, und auch in Ternopil scheint es ruhig geblieben zu sein, trotz Sturmwarnungen.

Als ich nachher im Melkstand mit Taras, dem Melker, gesprochen habe, hat Anja von kurz vor der Grenze nach Polen angerufen und gesagt, dass es eine Riesenautoschlange gebe und sie nicht wisse, ob sie’s heute noch über die Grenze schaffen. Als ich ihre Stimme hörte, musste ich einfach losheulen. Ich weiss nicht mal genau, warum ich plötzlich so traurig wurde. Sie sagt, dass sie zurückkomme, sobald die Bombardierungen aufhörten, sie habe einfach Angst um die Kinder.

Auf dem Markt in Berezhany war es heute ziemlich ruhig, aber unsere Milch- Nadja hat trotzdem 80 l Milch verkauft. Wer uns schon besucht hat, dem ist die charmante, immer gut gelaunte und schmucke Nadja sicher in bester Erinnerung. Sie ist der Inbegriff einer gewitzten Verkäuferin, und bringt mit Überzeugungskraft fast alle unsere Produkte an den Mann. Genau so gut schaut sie, dass sie selbt zu ihrem Vorteil kommt. Sie hat auch schon mal die Milch teurer verkauft, als abgemacht, und die Differenz in die Tasche ihrer eigenen adretten Schürze gesteckt. Wir haben es (mindestens dieses eine mal) gemerkt, aber, nach einem heftigen Streit, arbeiten wir weiterhin gutgelaunt und fröhlich miteinander....Man muss sie einfach gern haben, die Nadja, und das weiss sie.

Am Nachmittag gab es Sirenenalarm in Berezhany, aber niemand weiss, warum. Im ca. 150 km entfernten Brody scheint ebenfalls eine Fallschirmbrigade gelandet zu sein

Ivan ist sogar nach Ternopil gefahren, da scheint alles ruhig zu sein, man muss sich lediglich ausweisen, und hat einen 3 Phasen Generator nach Hause gebracht. Und grad jetzt hat Taras, der Elektroniker, ihn zum Laufen gebracht! So kann man schon ein bisschen ruhiger leben, weil wir nicht mehr abhängig sein werden von der öffentlichen Stromversorgung.

Um 19 Uhr abendlicher Besuch bei Milli. Resultat der gestrigen Diskussion wegen Transfer ins Altersheim = null. Sie sträubt sich mit Händen und Füssen dagegen und will unbedingt, dass Anja (die Mutter von Anja) sie zu sich nach Hause nimmt. Aber das geht nicht, basta. Anja I (nennen wir sie von jetzt an Anja I und die Tochter Anja II) hat ihr jetzt angekündigt, dass sie nur noch einmal täglich komme, weil sie die eigene 90 jährige Mutter nicht solange allein lassen könne. Neuster Plan ist, morgen früh mit Milli eine Exkursion ins Altersheim zu machen, damit sie sich ev.mit dem Gedanken Altersheim ein bisschen anfreunden könnte. Es ist wirklich haarsträubend, dass dieses hilflose Frauchen allein in diesem Häuschen bleibt. Schauen wir, ob wir sie überhaupt ins Auto bringen.

Übrigens war der Bruder von Anja I scheints auch in diesem Altersheim, aber darüber erzähle ich morgen. Heute war wieder um 21 Uhr Verdunkelung.

Unsere Anja II mit ihren Kindern ist jetzt also in Polen, wo sie, wie alle andern Flüchtlinge, von den Polen aufs herzlichste empfangen worden sei. Es stehe genügend Raum für die Flüchtlinge zur Verfügung.

Heute hat Maryna Gonzuaze aus der Nähe von Kiev angerufen. Sie ist Ukrainischlehrerin in der Waldorfschule Sofia Kiev und war schon zweimal mit einer Klasse bei uns. Jetzt aber findet keine Schule statt. Sie befindet sich im Dorf bei ihren Eltern, wo sie in einer kleinen, armen Landwirtschaft aufgewachsen ist. Sie hat mir früher mal erzählt, dass sie sich immer so geschämt habe, «aus dem Dorf» zu kommen. Sie hat in Kiev Ukrainisch studiert und wollte «dem Dorf» entkommen. Sie sagte, durch die Landwirtschaftspraktika bei uns, habe sie gelernt, dass es möglich sei, die ukrainische Erde zu lieben.

In Kiev sei es jetzt schlimm, richtiger Krieg, und es gebe absolute Ausgangssperre. Es gebe plündernde Marodeure, russische, aber auch ukrainische. Aber die Polizei schütze die Bevölkerung. «Warum nur gibt es diesen Krieg. Wir wollen und müssen doch die Ukraine aufbauen!» Und sie werde ihre Heimat ganz sicher nicht verlassen, was solle sie denn in Deutschland.

Und sie erzählte vom Dorf Korjukiwka, im Sumy Oblast, ganzim Nordosten des Landes, wo eine zwei Kilometer lange Panzereinheit sich dem Dorf genähert habe. Alle Einwohner seien mit offenen Armen auf die Strasse gegangen, jung und alt, hätten die Panzer gestoppt, mit den Soldaten geredet, und sie gebeten, nach Hause zu gehen. – Und die Panzer hätten umgedreht und seien zurückgefahren, von woher sie gekommen seien.

Dann geht die Sage von russischen Soldaten, die, nachdem sie erkannt hätten, dass sie nicht zu Waffenübungen, sondern in den Krieg in die Ukraine führen, sich geweigert hätten loszumarschieren. Auch sei die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Diesel absolut ungenügend.
Eine weitere Sage handelt von Kadyrov, dem General der tschetschenischen Sondereinheit, der sich ebenfalls weigere, am Krieg in der Ukraine teilzunehmen.

Alle diese drei wunderschönen Geschichten hab ich noch nicht in Zeitungen gelesen, leider, aber die Menschen hier erzählen sich das, und haben es wahrscheinlich aus den sozialen Medien.
Meine Freundin Maria, ebenfalls Ukrainischlehrerin, aber in Berezhany, hat erzählt, dass am 18. Februar, welches der 7. Jahrestag für die ersten Opfer auf dem «Maidan»2014 gewesen sei, über diesem Platz Maidan ein Regenbogen gestanden hätte. Sie ist überzeugt, dass das ein gutes Zeichen sei. Als Bekräftigung erzählte sie, dass eine Rakete von Weissrussland auf Kiev abgeschossen worden sei, die ukrainische Luftabwehr habe diese Rakete getroffen, und diese sei mitten in einem Wohnquartier mit riesigen Wohnblöcken abgestürzt – aber genau und parallel zwischen zweien von ihnen. Da habe der Engel der Ukraine mitgewirkt.

Sie ist im Übrigen ebenso von der Wirkkraft des Betens überzeugt, wie vom guten Zeichen. Man müsse dreimal täglich für Putin beten und einmal für unsere Soldaten.

Die Mission bei Milli war wieder nicht von Erfolg gekrönt, sie weigert sich standhaft, sich dieses Altersheim anzusehen, nimmt es aber selbstverständlich in Anspruch, dass Anja I alles für sie macht. Heute hat Anja I Ordnung gemacht und geputzt, wobei ich mir das Wasser im Putzeimer, nach vollbrachter Tat, lieber nicht genauer angeschaut habe, ebensowenig den sogenannten Schwabbro (das Gerät mit den langen Fäden, um den Boden feucht aufzunehmen). Aber dass er dunkelgrau war, das zu sehen konnte ich nicht vermeiden. Dass ich an der Aktion nicht teilgenommen habe, ist nicht besonders rühmlich, aber ich hatte eine gute Ausrede: ich habe Milli ein bisschen nach ihrem Leben ausgefragt. Mit Händen und Füssen und Mimik haben wir uns verständigt. Sie war Buchhalterin und hat immer gearbeitet, weil sie keine Kinder hatte. Sie war verheiratet und hat ihren Mann geliebt, und er sie. Es gibt im Zimmer ein schönes Hochzeitsfoto von der schönen jungen Milli und ihrem Mann. Sie hat gern gesungen und getanzt (sie demonstrierte humpelnd und hüpfend und strahlend, w i e gerne). Was sie mir nicht erzählt hat: dass ihr Mann seine Familie für sie verlassen hatte und dass sie, als sie jünger war, die Familie von Anja I nicht kennen wollte und sie nie besucht habe. Das hat mir nachher Anja I beigebracht. Und erst seit Milli hilfsbedürftig sei und niemanden habe, habe sie sich erinnert, dass Anja ihre Cousine sei. Anja I und II haben der Milli auch den Spitalaufenthalt finanziert und die Medikamente bezahlt, weil sie beteuerte, sie habe kein Geld. Und heute haben wir zufällig ihr dickes Portemonnaie gesehen.... Anja I war empört. Sie hat der Milli angekündigt, dass, wenn sie nächstes mal komme, und es sei wieder so eine Sauordnung, sie einfach rechtsumkehrt mache, und überhaupt komme sie nur noch einmal täglich, und die Ziege melke sie auch nicht mehr. Das könne Milli selber machen, s i e hätte die Ziege ja unbedingt gewollt. Anja I ist nämlich überzeugt, dass die Milli sie einfach manipuliere. Aber trotzdem macht sie das alles für sie. Milli kann im übrigen auch wieder herumhumpeln, und mit den Schmerzen scheint es auch nicht mehr so schlimm zu sein.
Das heisst, diese Mission ist für mich bis auf weiteres beendet, denn unter Tags kann Anja mit dem Fahrrad dahin fahren und braucht keinen Transport mehr.

Heute haben wir alle möglichen Vorkehrungen getroffen für den Fall, dass der Strom ausfällt.

Bis jetzt funktioniert bei uns alles, wie normal. Normal heisst auch, dass bei unserem Wasserturm, in den man das Wasser hinaufpumpt, die Klappe, die verhindert,dass das Wasser wieder zurückläuft, kaputt ist. Das hat zur Folge, dass man alle zwei Stunden den Wasserturm neu füllen muss, was natürlich eine groteske Verschwendung von Elektrizität ist. Ausserdem ist die Automatik kaputt, und man muss die Pumpe von Hand an- und wieder abstellen, wenn das Wasser oben raus läuft. Die Verantwortung für die Instandhaltung des Wasserturmes liegt aber nicht bei uns, sondern bei den Nachbarn, die auch Wasserbezüger sind. Wir zahlen dafür den Strom. Aber es fühlt sich eben doch niemand von den Nachbarn verantwortlich, darum werden die Probleme, die uns dieser marode Wasserturm beschert, einfach ausgesessen. Wir von der Farm zahlen ja den Strom und stellen die Pumpe immer wieder an und ab. Heute morgen ist das Fass, bzw.der Wasserturm für uns übergelaufen, und wir sind selbst zur Tat geschritten. Unser Elektroniker Taras, der mit den zwei rechten Händen, der einfach alles kann, vom Lösen von Computerproblemen bis zum Heraustüfteln des besten Schwimmers für die Wassertränken oder dem Flicken von Motoren, hat das Problem mit der Klappe gelöst. Taras war übrigens schon mal an der Front im Osten, die es ja seit 2014 gibt und hat von da ein schweres Trauma mitgebracht. Wir wissen nicht genau, wie es in ihm aussieht, jetzt, wo die Generalmobilmachung im Gange ist. Er ist Offizier, und es ist nicht anzunehmen, dass er nicht eingezogen wird. Aber wir hoffen auf dieses Wunder.

Anjas Mutter Anja hat eine alte Cousine, die seit längerer Zeit im Spital liegt. Die junge Anja ist unsere tüchtige, treue, fröhliche Melkerin, und ihre Mutter Anja versorgt den Haushalt, die kleine Landwirtschaft mit Kuh, Ziege und Federvolk und schaut zu den drei Mädchen von Anja, wenn diese arbeitet. Nun musste also heute die alte Cousine Milli das Spital verlassen, obwohl sie noch bettlägerig ist, weil da Platz gemacht wird für die Verwundeten, die es hoffentlich nicht geben wird. Ich hab geholfen, sie nach Hause zu bringen: ein altes, kleines,rundliches Frauchen mit einem grossen Kopf mit einem netten kleinen Chignon und grossen, wachen, interessierten blauen Augen, wahrscheinlich war sie einmal recht hübsch. Sie hat das Sprechvermögen verloren, kann nur schwer Laute formen, und wenn es irgendwie kritisch wird, wimmert sie fast wie ein Truthühnchen vor sich hin, z.B.beim Transfer vom Krankenhausbett, über die Treppe runter ins Auto. Aber sie versteht alles, auch die Zusammenhänge.
Dann kamen wir also in ihrem Häuschen an, im Hof gackerten die Hühner, trippelten die zwei Ziegen, bellte der Hund. Das Häuschen braucht dringend eine Generalrevision, fliessend Wasser gibt es auch nicht. Und es ist halt da drin für eine Schweizerin unvorstellbar dreckig usw. Dennoch hat das kleine Frauchen etwas Properes und Reinliches. Wir haben sie also mitsamt den Kleidern ins eiskalte Bett verfrachtet, aber nachher wollte sie, obwohl sie sich kaum auf den Beinen halten kann und immer wieder Schmerzattacken im Bauch hat, unbedingt selber den Gasofen in Gang bringen. Wenn man denkt, in wieviel tausend so kleinen Häuschen in der Ukraine alte, gebrechliche, zitternde, arme, darbende, verwahrloste Menschen ihr Leben fristen und täglich solche oder ähnlich kriminelle Gasöfen mit ähnlich kriminellen Methoden in Gang bringen, kann man nur staunen, dass sozusagen nie etwas passiert. Zum Schluss prüfte sie dann doch noch mit dem brennenden Zundhölzchen, ob beim Hebel kein Gas entweicht. Es entwich nichts.
Am Abend kamen wir nochmals, um die Tiere zu füttern (was Anja die letzten vier Wochen schon immer gemacht hatte, als Milli im Spital war; desgleichen morgens, um auch noch die Ziege zu melken) und Milli mit dem Nötigsten zu versorgen. Sonst war sie den ganzen Tag mutterseelenallein, eine halbe Stunde Wegzeit von den Anjas entfernt, welche die einzigen sind, die sich um sie sorgen. Eigene Kinder hatte Milli nicht, und laut Aussage von Anja will niemand von den Nachbarn etwas helfen, auch nicht gegen Geld. Und für Anja d.Ä. ist eigentlich diese Pflege nicht zu bewältigen, mit all ihrer andern Arbeit und dem langen Anmarsch. Also hat Anja der Milli jetzt versucht klarzumachen, dass sie mindestens für eine Woche ins Haus für alte Menschen in Saranchuki gehen müsse, weil sie selbst es nicht schaffe, für sie zu sorgen. Das gab eine lange, emotionale, gesten- und wortreiche Diskussion mit vielen Ausrufe- und Fragezeichen. Am Schluss umarmt einen die Milli immer lange und fest, fast wie ein Kind, streichelt einem über die Haare und übers Gesicht, sie ist sehr dankbar für die Zuwendung. Morgen werden wir sehen, was für ein Resultat die heutige Diskussion gezeitigt hat.

Als ich etwas später aufs Farmgelände einfuhr, traf ich mit dem nach Hause gehenden Taras zusammen, der heute Melkdienst hatte. Ob ich das Neueste wisse? Anja fahre mit ihren drei Mädchen nach Polen, um sie vor dem Krieg zu retten.

Da die Hirten ihre Herde
ließen und des Engels Worte trugen durch die enge Pforte
zu der Mutter und dem Kind fuhr das himmlische Gesind fort, im Sternenraum zu singen, fuhr der Himmel fort zu klingen: "Friede, Friede! auf der Erde!"

Seit die Engel so geraten,
o wie viele blutge Taten
hat der Streit auf wildem Pferde, der geharnischte, vollbracht!
In wie mancher heilgen Nacht sang der Chor der Geister zagend dringlich flehend, leis verklagend: "Friede, Friede! auf der Erde!"

Doch es ist ein ewger Glaube,
dass der Schwache nicht zum Raube jeder frechen Mordgebärde
werde fallen allezeit:
Etwas wie Gerechtigkeit
webt und wirkt in Mord und Grauen, und ein Reich will sich erbauen,
das den Frieden sucht der Erde.

Mählich wird es sich gestalten, seines heilgen Amtes walten, Waffen schmieden ohne Fährde, Flammenschwerter für das Recht, und ein königlich Geschlecht wird erblühn mit starken Söhnen, dessen helle Tuben dröhnen: Friede, Friede auf der Erde!

C.F. Meyer

 

Es reden und träumen die Menschen viel Von besseren künftigen Tagen.
Nach einem glücklichen goldenen Ziel
Sieht man sie rennen und jagen.
Die Welt wird alt und wird wieder jung, Doch der Mensch hofft immer Verbesserung.

Die Hoffnung führt ihn ins Leben ein,
Sie umflattert den fröhlichen Knaben,
Den Jüngling lockt ihr Zauberschein,
Sie wird mit dem Greis nicht begraben,
Denn beschliesst er im Grabe den müden Lauf, Noch am Grabe pflanzt er – die Hoffnung auf.

Es ist kein leerer und schmeichelnder Wahn, Erzeugt im Gehirne des Toren,
Im Herzen kündet es laut sich an.
Zu was Besserem sind wir geboren!

Und was die innere Stimme spricht, Das täuscht die hoffende Seele nicht.

Friedrich Schiller